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Schweißarbeiten am linken Projekt

nd-Gespräch: Die LINKEN-Vorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger wollen viele Menschen, viele Ansichten und viele Strömungen zusammenbringen

  • Lesedauer: 16 Min.
Bernd Riexinger: »Ich habe bei den Pfadfindern eine gute, solide politökonomische Ausbildung bekommen, mit stark marxistischer Prägung. Sogar den dialektischen Materialismus habe ich dort kennengelernt und profitiere noch heute davon.«
Bernd Riexinger: »Ich habe bei den Pfadfindern eine gute, solide politökonomische Ausbildung bekommen, mit stark marxistischer Prägung. Sogar den dialektischen Materialismus habe ich dort kennengelernt und profitiere noch heute davon.«

nd: Katja Kipping, wie sind Sie auf die linke Spur geraten?

Kipping: Ich habe schon in der Schule, wenn mich Sachen gestört haben, den Mund aufgemacht, wurde Klassensprecherin, später Schulsprecherin, engagierte mich dann in Umweltgruppen. Mit der damaligen PDS bin ich über den »Roten Baum« in Kontakt gekommen, das war ein ganz großartiger Jugendverein, es gibt ihn heute noch, in Dresden und auch mit einem Ableger in Berlin. Da wurden Ferienlagerfahrten organisiert, bei denen ich als Jugendliche und als Betreuerin mitgemacht habe. Der »Rote Baum« organisierte auch Partys und rief zu Demonstrationen auf. Das ist für mich eine optimale Herangehensweise an Politik, wenn Freude und politisches Engagement zusammengehen.

Sie haben auf einem Parteitag der PDS mal ausführlich über Ihr Slawistik-Studium und Ihre Abschlussarbeit über Tschernyschewski gesprochen. Lesen Sie Tschernyschewski manchmal immer noch?

Kipping: Ja, Tschernyschewskis »Was tun?« ist ein ausgezeichneter Roman. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war das ein Identifikationsroman für die russische Intelligenzija. Von ihm hat Lenin den Titel für seine politische Schrift »Was tun?« übernommen. Als ich vor ein paar Monaten in die Babypause ging, habe ich mir Tschernyschewski noch mal hervorgeholt.

Sie sind eifrige Verfechterin des bedingungslosen Grundeinkommens, geben die Zeitschrift »Prager Frühling« heraus und gehören dem Institut für Solidarische Moderne an, einer Denkwerkstatt. Wird dort eigentlich noch gedacht? Man hört gar nichts mehr davon.

Kipping: Das Institut Solidarische Moderne fühlt sich den Crossover-Debatten verpflichtet, da wirken Grüne, Sozialdemokraten, Linke und parteilose kritische Wissenschaftler mit. Wir machen jedes Jahr eine Sommerveranstaltung, die im vergangenen Jahr widmete sich dem sozialökologischen Umbau. Da wachsen gute Ideen. Aber es gehört zu den Schattenseiten meines neues Amtes, dass ich mich dort als Sprecherin zurückziehen muss, damit noch genügend Zeit für die Familie bleibt.

Passt denn der neue Parteivorsitz mit Ihren Aufgaben als Vorsitzende des Ausschusses Arbeit und Soziales im Bundestag zusammen?

Kipping: Dieser Ausschussvorsitz war eine spannende Tätigkeit für mich. Ich habe eine große Erwartungshaltung gespürt. Man kann ein paar Schlaglichter setzen, zum Beispiel habe ich Erwerbsloseninitiativen zu Gesprächen mit allen Fraktionen eingeladen. Aber natürlich muss man als Ausschussvorsitzende auch die politische Mehrheit im Ausschuss vertreten, und die ist im Bundestag leider schwarz-gelb. Sie trifft in der Regel sozialpolitisch die falschen Entscheidungen. Als Parteivorsitzende bin ich nun stärker für die LINKE gefordert und werde den Ausschussvorsitz deswegen demnächst ordnungsgemäß abgeben.

Sie haben vor Ihrer Wahl auf dem Parteitag in Göttingen gesagt, sie würden sich als junge Mutter Ihren Parteivorsitz als Teilzeitarbeit wünschen. Geht das denn?

Kipping: Ich habe gesagt, ich bin eine große Anhängerin der Arbeitsteilung. Da wir eine Doppelspitze haben, werden wir sicher etliches gemeinsam wahrnehmen, wie z. B. diese Diskussion. Aber die Doppelspitze ermöglicht eben auch, dass wir uns gegenseitig Aufgaben abnehmen. Das erfordert natürlich ein Grundvertrauen zueinander, das haben wir. Ich habe mir meine Entscheidung zur Kandidatur wegen meines Kindes allerdings nicht leicht gemacht. Mir ist wichtig, auch an dieser Stelle Denkschablonen zu durchbrechen. Es ist ja nicht nur mein Problem, junge Mutter zu sein. Ich möchte, dass die Arbeits- wie die politische Welt uns nicht vor die Alternative stellt: Kind oder verantwortliche Tätigkeit, sondern sich darauf einlässt, die Bedingungen für die Betreuung eines Kindes auch in leitenden Positionen zu akzeptieren. Ganz konkret heißt das für mich: Ich will mich nicht nur Sonntagabend und hin und wieder mal ein ganzes Wochenende um meine Tochter kümmern. In meinem Kalender sind täglich drei Stunden für meine Tochter reserviert. Und in dieser Zeit pausiert die Politik.

Der berufliche Partner, der das respektieren muss, ist Bernd Riexinger aus Baden-Württemberg, Kriegsdienstverweigerer, Bankkaufmann, Betriebsrat, Gewerkschaftssekretär - ist das Ihre linke Spur?

Riexinger: Ja, hinzu kommt: Ich war auch in der Jugendarbeit tätig, zehn Jahre als Landesvorsitzender beim Bund Deutscher Pfadfinder. Das war Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre ein linksdemokratischer Jugendverband. Weil die traditionellen Pfadfinder Nachwuchsprobleme hatten, haben sie sich linke und antiautoritäre Sozialpädagogen geholt, was allerdings dazu führte, dass sie wegen sozialistischer Umtriebe aus dem Weltpfadfinderbund ausgeschlossen wurden. In diesem Verband bin ich neben der Lehrlingsbewegung sehr stark politisiert worden. Ich habe dort auch eine gute, solide politökonomische Ausbildung bekommen, mit stark marxistischer Prägung. Sogar den dialektischen Materialismus habe ich dort kennengelernt und profitiere noch heute davon.

1955 geboren, da dürfte Ihre Politisierung zwischen Ende der 60er und Mitte der 70er Jahre Zusammengefallen sein mit den Auseinandersetzungen um die Ostpolitik, dem Misstrauensvotum der CDU/CSU gegen Willy Brandt, der »Willy wählen«-Kampagne, aber auch dem Vietnam-Krieg, den Berufsverboten, der RAF-Hysterie usw. Hat Sie das über die Jugendarbeit hinaus politisch beeinflusst?

Riexinger: Ja, ich gehörte als Jugendvertreter zu den ersten, die nach der Ausbildung nicht übernommen werden sollten, weil wir unbequem waren und gegen die »Kommissbeutel«, die wir als Ausbilder hatten, aufmuckten. Ich hatte Glück, dass eine der ersten Maßnahmen der sozialliberalen Regierung unter Brandt war, das Gesetz zu ändern: Die Betriebe mussten die Jugendvertreter übernehmen oder gegen sie klagen. Das tat der Betrieb, in dem ich beschäftigt war, ich habe den Prozess aber gewonnen. Wir hatten in meinem Ort auch Bündnisse mit Initiativen gegen den Radikalenerlass und demonstrierten gemeinsam mit ihnen gegen die Nichtübernahme von Jugendvertretern und gegen die Berufsverbote. Diese Bündniserfahrungen haben mich sehr geprägt.

Bereits mit 25 Jahren wurden Sie freigestellter Betriebsrat, haben dann eine über 30-jährige Funktionärskarriere als Belegschaftsvertreter und als Gewerkschaftssekretär gemacht. Eine so lange Zeit im sozialdemokratisch beherrschten Gewerkschaftsapparat, staubt das nicht ein bisschen an?

Riexinger: Ich glaube nicht, dass ich zu den typischen Gewerkschaftsfunktionären gehöre. Als Betriebsrat ist man sowieso nicht Teil des Apparats. Ich bin außerdem erst mit 35 Jahren in den Apparat gegangen. Meine erste Aktion in der Landesleitung damals der HBV - der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen - war die Teilnahme am Protest gegen den Golf-Krieg Anfang der 90er Jahre. Das war immer meine Position, schon in der Probezeit: Als Gewerkschafter müssen wir auf die Straße gehen, nicht nur wenn es um Tarife usw. geht, sondern auch im Bündnis mit der Friedensbewegung oder mit anderen sozialen Bewegungen wie Attac, der globalisierungskritischen Bewegung, den Protesten gegen die Agenda 2010 und jetzt auch mit der Blockupy-Bewegung. Ich verstehe mich nicht als Apparatschik, sondern als Bewegungsmensch. Das möchte ich auch gerne in die Partei einbringen.

Da finden Sie einen herzhaften Beistand beim Schriftsteller Raul Zelik, der gerade in die LINKEN eingetreten ist und in einem Essay in »neues deutschland« über Sie geschrieben hat: Bernd Riexinger ist »kein Gewerkschaftsfunktionär, wie viele Journalisten kolportiert haben. Innerhalb der deutschen Gewerkschaften war er stets eine Ausnahmeerscheinung, ein Gewerkschaftsaktivist, der verstanden hat, dass es nicht allein um die Verteidigung männlicher deutscher Kernbelegschaften geht und dass Gewerkschaften nicht Versicherungsorganisationen, sondern Orte der aktiven sozialen Praxis sein sollten.« Schmeichelt dieses Literatenlob?

Riexinger: Na, ich hoffe vor allem, dass sein Beispiel Schule macht und noch mehr gute Schriftsteller, Wissenschaftler und Künstler zur LINKEN kommen. Es gibt im Netz eine Initiative von vielen Bewegungsaktivisten, die bei Blockupy oder anderen sozialen Initiativen mit dabei sind, und die jetzt aufrufen, in DIE LINKE einzutreten. Das ist doch ein guter Auftakt für unseren Amtsbeginn.

Vor Ihnen gab es als Parteivorsitzende der LINKEN sehr sehr unterschiedliche Menschen. Einer ihrer ganz großen Unterschiede war: Manche hatten das »nd« abonniert, andere nicht. Zu welcher Sorte gehören Sie?

Riexinger: Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich zu denen gehöre, die es nicht abonniert hatten. Aber ich habe natürlich sofort festgestellt, dass es im Karl-Liebknecht-Haus abonniert ist. Da lese ich es jetzt auch jeden Tag.

Ein erster Beschluss des neuen Parteivorstands war, in den ersten 120 Tagen eine breite Debatte über den weiteren Kurs zu führen. Ist es so schlimm, dass die üblichen 100 Tage nicht reichen?

Kipping: Es gibt einen anderen Grund: Wir haben gesagt, wir stehen auch in der Tradition der Arbeiter/innen-Bewegung, und die hat verschiedene soziale Errungenschaften erkämpft. Eine davon ist das Recht auf Urlaub. Und da nicht nur wir als Vorsitzende an der Umsetzung des 120-Tage-Programms beteiligt sind, sondern auch viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, und wir im übrigen dem Sommer entgegengehen, haben wir auf die übliche 100-Tage-Frist noch mal 20 Tage draufgelegt. Niemand soll Angst haben, dass der neue Parteivorstand irgendjemand den Urlaub nimmt.

Eine Parole von Ihnen als neue Vorsitzende ist die gelobte »Kunst des Zuhörens«. Hat es vorher bei der LINKEN zu wenig Zuhören und zu viele Ansagen gegeben?

Riexinger: Die Partei kann sich nur entwickeln, wenn sich viele Menschen in diesem linken Projekt engagieren und wenn sich viele Strömungen und viele Ansichten in der Partei wiederfinden. Nach meiner Überzeugung haben wir 80 Prozent Gemeinsamkeiten in der Partei und 20 Prozent Unterschiede. Die sind aber produktiv für uns. Eine Partei, in der alle immer gleicher Meinung sind, wird langweilig. Deswegen wollen wir durch Zuhören, Diskutieren und durch eigene Angebote eine respektvolle Form der Meinungsbildung in der Partei erreichen. Das ist keine Abgrenzung von Vorgängern, sondern eine Verpflichtung, die wir für uns formuliert haben.

Und was haben die ersten Diskussionen auf den Parteiversammlungen in Brandenburg und Berlin und bei der Bundestagsfraktion ergeben?

Riexinger: Ich habe mich sehr gefreut, dass ich auf dem Landesparteitag in Berlin sehr freundlich empfangen und nach meiner Rede noch freundlicher verabschiedet wurde. Und ich hatte den Eindruck: Nicht, weil die Genossen mich los werden wollten, sondern weil sie das Angebot, das wir der Partei unterbreiten, gut finden. In Brandenburg habe ich zweierlei gelernt: Erstens, dass wir uns hüten müssen, ständig über Ost-West-Konflikte zu reden. Dieser Gegensatz ist in den Basisorganisationen bei weitem nicht so groß. Unsere Mitglieder und unsere Aktiven wissen, dass wir nur als gesamtdeutsches linkspluralistisches Projekt eine Chance haben. Zweitens habe ich verstanden, dass ein großes Mitteilungsbedürfnis existiert und vorhandene Kontroversen etwa zu Fragen der Regierungsbeteiligung, der Kommunalpolitik oder des Engagements in Bewegungen sich quer durch die gesamte Partei ziehen. Die Brandenburger Genossinnen und Genossen haben mir gesagt: Glaub doch nicht, dass es in unserer Landespartei keine Auseinandersetzungen über unsere Regierungspolitik gibt, das ist kein Ost-West-Problem. Und wo ernsthaft diskutiert wird, stellt sich zumeist heraus, dass die Differenzen kleiner sind als sie nach außen erscheinen oder dargestellt werden.

Kipping: Ich möchte dazu eine schlichte persönliche Erfahrung beisteuern: Wenn ich meinem Mann - er kommt aus dem Westen - sage, um dreiviertel Sieben bin ich zu Hause, fragt er jedesmal nach, ob ich 18.45 Uhr oder 19.45 Uhr meine. Darüber habe ich mich manchmal lustig gemacht und meinte: Die Ostdeutschen mussten so viele neue Begriffe lernen, über 20 Jahre nach der Wende könne er auch endlich mal gelernt haben, was dreiviertel Sieben heißt. Als uns das neulich wieder im Beisein einer Freundin passierte, sagte diese zu mir: Katja, du irrst, das ist kein Ost-West-Konflikt, das ist ein Nord-Süd-Konflikt. Es gibt einfach Leute im Süden und im Norden, die das unterschiedlich bezeichnen. Gut, dieses Eheproblem habe ich damit für mich gelöst, aber es zeigt mir für die Partei: Vielleicht gibt es in unserer Kommunikation auch etliches, was wir als Ost-West-Konflikt behandeln, aber keiner ist. Wir werden den Dingen künftig genauer auf den Grund gehen und schnelle Klischees vermeiden.

Außer genauer hinhören: Was wollen Sie denn generell anders machen als ihre Vorgänger?

Kipping: Wir wollen vor allem eines genauso wie sie machen: Wir werden nichts Schlechtes über unsere Vorgängerinnen sagen.

Als vor zwei Jahren Gesine Lötzsch und Klaus Ernst zu Vorsitzenden gewählt wurden, hatten wir ein gemeinsames Interview mit ihnen im »nd«. Darin sagten sie: »Wir übernehmen ein gut bestelltes Feld. Wir haben sehr gute Startbedingungen, weil wir eine sehr hohe Wählerzustimmung für unsere klaren Aussagen haben.« Gibt es da auch Kontinuität, übernehmen Sie ein gut bestelltes Feld in der Partei?

Riexinger: Das wäre natürlich eine etwas gewagte Aussage. Aber: Am Montag nach dem Parteitag in Göttingen hatten wir ein schlechtes Presseecho. Es wurde von unüberbrückbaren Gegensätzen und von Spaltungsgefahr geschrieben. Heute, nur wenig später, stellen wir beide fest: Die Stimmung in der Partei ist deutlich besser geworden als vor dem Parteitag und auch die medialen Reaktionen auf uns sind nach Göttingen bereits deutlich besser geworden. Jetzt attestiert man uns eine Charmeoffensive, erwähnt sachlich unser 120-Tage-Programm und zitiert uns sogar wieder zur Eurokrise. Wenn das so weitergeht, wenn wir vor allem gemeinsam in der Partei an unserem Projekt arbeiten, dann bin ich nicht allzu bange, dass wir bald wieder in eine Erfolgsspur kommen.

Eines der Projekte in dem erwähnten 120-Tage-Programm ist der Internet-Blog »Fragend schreiten wir voran«, mit dem die Stimmungslage in der LINKEN sondiert werden soll. Dieser Blog wurde am 7. Juni gestartet, es gab bis zum nächsten Tag bereits 38 Kommentare und Vorschläge, in der Folgewoche aber nur acht weitere. Kann es sein, dass diese Partei vor allem froh ist, quälende Debatten erst mal los zu sein, dass sie eigentlich gar nicht diskutieren, sondern ihre Ruhe haben will?

Kipping: Ich höre aus der Partei keinen Wunsch nach Ruhe in dem Sinne, dass es keine Debatten und keine Bewegung mehr geben soll. Aber es gibt das Bedürfnis, sich nicht mehr auf unproduktive Art und Weise zu streiten. Der Internet-Blog ist nicht die einzige Möglichkeit, mit uns zu diskutieren. Ich habe immer gesagt: Streit kann etwas Produktives sein, wenn er um die bessere Lösung geht. Also wenn zum Beispiel diskutiert wird, mit welchen Vorschlägen wir das Problem der Altersarmut lösen wollen. Es ist ja gut, wenn wir da - auch öffentlich - als eine Partei wahrgenommen werden, die sucht und verschiedene, streitende Argumente gegeneinander abwägt. Es belegt, dass wir uns ernsthaft um ein Problem kümmern.

Einer unserer Schwerpunkte ist die Auseinandersetzung mit der Krise. Wir saßen zu diesem Thema - es war einer unserer ersten Termine als Vorsitzende - mit den anderen Parteien in einer Runde bei der Bundeskanzlerin zusammen. SPD und Grüne verhielten sich dort sehr handzahm, erstarrten wie die Kaninchen vor der Schlange und waren nur besorgt, dass die Finanzmärkte nicht nervös werden. Auf die Idee, wie die Politik die Finanzmärkte besser regulieren könnte, damit die Menschen weniger Nachteile haben, kommen sie nicht. Wir waren die einzigen in der Runde, die nicht mit der Bundeskanzlerin aushandeln wollten, wie man die eigene Partei über den Tisch zieht, damit sie dem Fiskalpakt zustimmt.

Die Vorbereitungen für die Bundestagswahl 2013 stehen bald bevor. Haben Sie die Personaldiskussionen da nicht schnell wieder am Hals, wenn es z. B. um die Spitzenkandidaturen geht?

Riexinger: Wir haben auch mit der Fraktion sehr klar verabredet, auch mit der Fraktion: Es gibt keine Personaldiskussionen. Dazu gibt es zum heutigen Zeitpunkt auch gar keinen Grund. Alle Politiker der LINKEN, über die die Medien oder andere weiter spekulieren, sind für uns wichtige Politiker, die wir für den Bundestagswahlkampf brauchen. Wir können doch stolz sein, dass wir viele Gesichter haben, die genannt werden. Aber wer es dann wird, das schlägt der Parteivorstand vor. Diese Autorität hat er. Und er wird alles Notwendige respektvoll mit allen Beteiligten, mit der Fraktion und mit den Gliederungen diskutieren. In den nächsten Monaten werden wir uns nachhaltig auf unsere Themen konzentrieren. Immerhin erleben wir gerade die härteste Auseinandersetzung darüber, ob Europa unter neoliberaler Hegemonie bleibt oder ob wir eine Chance für ein demokratisches und soziales Europa erhalten.

Muss die LINKE dafür thematisch Neuland erschließen oder sehen Sie das, was Ihnen einst Wahlerfolge beschieden hat - der Protest gegen Hartz IV, die Forderung nach Mindestlohn, gegen den Kriegseinsatz in Afghanistan usw. -, als eine weiter ausreichend tragfähige Basis an, um in die Bundestagswahl 2013 zu gehen?

Kipping: Je länger wir mit den Auswirkungen von Hartz IV und der Agenda 2010 beschäftigt sind, desto mehr sehe ich unseren Protest dagegen bestätigt. Aber natürlich: Es reicht nicht, »Weg mit Hartz IV« zu rufen, damit alles gesagt zu haben und das Problem für gelöst zu halten. Menschen vor der sogenannten Prekarität, also vor mangelnder sozialer Sicherheit zu schützen, bleibt ein zentrales Thema für uns, das sagen wir in unserem 120-Tage-Programm. Wir erleben in den unterschiedlichen Arbeits- und Lebenswelten eine Zunahme von Stress. Die Leute haben Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, sie kommen mit dem Geld nicht über die Runden, haben nebenan einen Leiharbeiter als Kollegen, der das Gleiche macht, aber nur die Hälfte des Geldes bekommt. Und dieser Kollege muss am nächsten Tag zum Jobcenter, wo er nicht als Bürger behandelt wird, sondern womöglich sich gedemütigt fühlt. Darum müssen wir uns weiter und verstärkt kümmern. Die Politik wird vielfach von der Kunst beherrscht, Menschen gegeneinander auszuspielen: die Leiharbeiterin gegen den Kollegen der Kernbelegschaft, die Verkäuferin gegen die Erwerbslose. Wir wollen ihre Interessen zusammenbringen, denn sie gehören zusammen. Wir wollen, dass ihre Zukunft gemeinsam sicherer wird. Deswegen haben wir auf unserem Bundesparteitag auch unsere Forderung nach einer Mindestrente beschlossen. Kein älterer Mensch darf in Armut fallen.

Riexinger: Wir werden unsere »alten«, aber nicht erledigten Themen mit neuen ergänzen. Dazu veranlasst uns schon die Eurokrise. Wir werden in den nächsten Monaten sehr harte gesellschaftliche Auseinandersetzungen um den Bestand des Euro bekommen. Und wir werden diese Auseinandersetzungen mit dem Blick auf die realen Lebenslagen der Menschen führen. Wer kann das noch hören: Fiskalpakt, EFSF und ESM, Milliarden und Billionen in Rettungsschirmen für die Banken? Das sind alles abstrakte Größen. Nein, es geht um die soziale Polarisierung, die durch eine verfehlte Europapolitik der Konservativen und leider zum Teil auch der Sozialdemokratie verschärft wird. Wir sagen mit der Stimme der Betroffenen: Die nächsten Milliarden für uns, Reichtum ist teilbar! Wir vertreten die Umkehr aus dem ständigen Kreislauf, in dem die Löhne gesenkt, beim Öffentlichen Dienst eingespart und bei den Renten gekürzt wird. Und diese Umkehr heißt: Die Reichen müssen zur Bewältigung der Krise herangezogen werden, weil sie auf die Krise spekuliert haben. DIE LINKE ist die einzige Kraft, die diese Forderung durchsetzen will.

Sie beide haben sich in einer äußerst schwierigen Situation der Partei in die Pflicht nehmen lassen. Weil es Ihre Pflicht ist, da zu sein, oder weil Sie optimistisch sind, dass es gelingt?

Kipping: Wir sind nicht als Konkursverwalter angetreten. Wir wollen dazu beitragen, dass aus dem Projekt der LINKEN etwas Erfolgreiches wird. Und darauf freuen wir uns. Zwei Wochen sind wir im Amt und dürfen registrieren, dass der Negativtrend erst einmal gestoppt wurde. Die Umfragen sind wieder einen Prozent nach oben gegangen.

Es ist die Umfrage eines einzigen Instituts. Wir wollen keinen Optimismus bremsen, aber empfehlen, ihn mit einem gesunden Realismus zu mischen.

Riexinger: Wir wissen um unsere Verantwortung, werden nüchtern und im Vertrauen auf die Motivation und das Engagement unserer Mitglieder handeln. Wir werden unseren Optimismus nicht verlieren.


Die LINKE

Von den 69 400 Mitgliedern der Partei DIE LINKE sind rund 35 000 in den östlichen, 26 000 in den westlichen Landesverbänden und 8 300 in Berlin organisiert. Der Anteil weiblicher Mitglieder beträgt in den Westverbänden rund 25, in den Ostverbänden und in Berlin 44 und insgesamt 37 Prozent (alle Zahlen nach einer Statistik zum Jahresende 2011).

Ihre höchste Mitgliederzahl hatte die DIE LINKE im Jahr 2009 mit über 78 000. Der Aderlass in den letzten zwei Jahren beträgt rund 4 400 Mitglieder im Osten, 3 500 im Westen, 700 in Berlin.

Katja Kipping: »Ich möchte, dass die Arbeits- wie die politische Welt junge Mütter nicht vor die Alternative stellt: Kind oder verantwortliche Tätigkeit, sondern sich darauf einlässt, die Bedingungen für die Betreuung eines Kindes auch in leitenden Positionen zu akzeptieren.«
Katja Kipping: »Ich möchte, dass die Arbeits- wie die politische Welt junge Mütter nicht vor die Alternative stellt: Kind oder verantwortliche Tätigkeit, sondern sich darauf einlässt, die Bedingungen für die Betreuung eines Kindes auch in leitenden Positionen zu akzeptieren.«

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