Gärtnern auf Trümmerhalden
40 Jahre Green Guerilla in New York: Von Freiraum-Eroberungen zur gesunden Ernährung
Ein Mann steht am Zaun und klaubt unreife Himbeeren durch das kleinmaschige Gitter. Ein paar Meter weiter schläft ein anderer eingehüllt in Decken auf einem Plastikstuhl. In den Gitterzaun hat er einen Sonnenschirm geklemmt, sodass er im Schatten sitzt. Der Zaun gehört zum ersten Gemeinschaftsgarten New Yorks, der sich entlang der Straße Houston in der Lower Eastside von Manhattan erstreckt. »First Park« steht am Eingangstor, benannt ist der Garten nach seiner Gründerin Liz Christy.
Es ist ein schmaler Streifen von etwa vier Metern, der von der vierten bis hinunter zur ersten Avenue verläuft. Nicht alles davon ist ein Garten, auch ein Spielplatz gehört zu dem Komplex sowie ein Basketballfeld und ein kleiner Park mit Bänken, auf denen Mütter mit Kinderwagen sitzen und Obdachlose schlafen.
Nachbarn gründeten den Garten 1973. Damals lebten in der Lower Eastside viele Einwanderer aus Lateinamerika und der Ukraine. In den 60er und 70er Jahren verlor die Stadt einen Großteil der Industrie und damit Einnahmen an den Staat New York. Die Immobilienpreise sanken in den Keller, ganze Häuser wurden abgerissen oder brannten nieder. Die Brachflächen vermüllten, und Ratten nahmen sie für sich ein. In Hausruinen übernachteten Junkies und ließen ihre Nadeln zurück.
»Überall gab es ungenutzte Grundstücke und verlassene Häuser«, erzählt Linda Cohen in ihrem Haus in Brooklyn. Vor knapp 40 Jahren hat sie als Studentin der Stadtplanung den Garten El Sol Brillante im East Village mitgegründet, der neben dem Liz-Christy-Garten und dem 11th-Street-Garden als einer der Pioniere in der Gartenszene gilt. El Sol Brillante (Die strahlende Sonne) spiegelte die Bewohnerschaft des Viertels wider, viele Lateinamerikaner waren beteiligt. Der Garten entstand auf einem Grundstück auf der 12. Straße zwischen den Avenues A und B auf den Schuttresten von fünf Häusern. »Hausbesitzer brannten damals ihre Häuser nieder, weil sie auf das Versicherungsgeld scharf waren. Sie nahmen an, in absehbarer Zeit keine Mieter für die Wohnungen zu finden. Die Gegend war ziemlich niedergerockt«, sagt Cohen.
Linda Cohen zähmt die Motorradgang
Als sie mit ein paar Nachbarn darüber nachdachte, den Schuttplatz zu einem Garten umzugestalten, ging es ihnen nicht unbedingt darum, eigenes Gemüse zum Kochen anzubauen. »Wir wollten einen Ort schaffen, an dem wir uns gerne aufhielten.« Die Nachbarn schütteten Erde auf und pflanzten Gemüse an. Anfangs war jedes einzelne Beet gesondert eingegittert. Nachts schliefen hier weiterhin die Junkies.
Von der Gartenidee waren nicht alle begeistert, die in der 12. Straße zu Hause waren. Cohen ging an die Schulen und in die Seniorenzentren, um für Unterstützung zu werben. »Ich musste mich auch mit der Motorradgang arrangieren, die sich immer an der Ecke traf und mich loswerden wollte - das war schließlich nicht mein Häuserblock, sondern ihrer. Aber irgendwann wurden sie zahm und haben uns sogar unterstützt.«
Um die Qualität des Bodens kümmerten sich die Gärtner damals noch nicht. Ein paar Kinder bekamen einen Hautausschlag. »Wir hatten den Boden vorher nie testen lassen. Dann kam raus, dass die Tomaten erhöhte Bleiwerte hatten - wir haben sie auch weiter gegessen, nur die Kinder haben keine mehr bekommen«, erzählt Linda Cohen. Später wurden die einzelnen Käfige weggeworfen, und ein Zaun trennte den Garten von der Straße ab.
»Um uns herum leben jetzt Millionäre«
In den 80ern erholte sich die Wirtschaft, neue Immobilien wurden hochgezogen, und plötzlich war das East Village eine beliebte Wohngegend. Die Mieten stiegen, und Menschen mit Geld zogen hier hin. »Auf einen Schlag änderte sich alles - die Lower Eastside war eine der ersten gentrifizierten Gegenden New Yorks«, sagt Cohen.
Bürgermeister Rudolph Giuliani nutzte die Gelegenheit, um 1000 Brachflächen in den Händen der Stadt zu versteigern. Rund 100 davon waren Gärten, die der Trust for Public Land und das New York Restoration Project nach Verhandlungen mit der Stadt schließlich zu einem symbolischen Kaufpreis erwerben konnten. Rund weitere 100 Flächen wurden von der Stadt erhalten und dem Grünflächenamt überstellt. Die Gärtner von El Sol Brillante haben ihr Grundstück selbst gekauft und einen der ersten sogenannten Land Trusts gegründet: Das Grundstück kann zu keinem anderen Zweck verwendet werden, gehört einer aus den Gärtnern bestehenden Gesellschaft und muss zumindest zeitweise für die Öffentlichkeit zugänglich sein.
In den Straßenzügen um den Garten herum eröffneten immer mehr Bars. Heute trinken hier Studenten der New York University ihren Kaffee, Touristen nippen an Cappuccino, und am Wochenende trifft man sich in der Gegend zum Brunchen. Immer noch haben viele Läden spanische Namen, und ein alter schwarzer Mann sitzt in einem Hauseingang und singt »He's got the whole world in his hands.« Die Gentrifizierung hat auch nach 25 Jahren nicht alle ehemaligen Bewohner vertrieben.
Die Tür zum Garten zwischen den Avenues A und B ist offen, drinnen zupft eine Frau Unkraut aus einem Beet, ein paar Männer sitzen an einem Tisch, vor ihnen die Reste eines Barbecues. »Um uns herum leben jetzt Millionäre«, sagt Nick Breeden in Jeans und ausgeleiertem T-Shirt und einer Flasche in der Hand, die in einer braunen Papiertüte steckt. Seit neun Jahren ist er Mitglied von El Sol Brillante. Ein großes Interesse an dem Garten haben die neuen Nachbarn bisher nicht gezeigt, meint er. Er hat aber die Bewohner eines Neubaus im Verdacht, regelmäßig die Feuerwehr vorbeizuschicken, wenn im Garten gegrillt wird. Breeden und die anderen Gärtner wussten sich aber zu helfen: »Wir haben zusammengelegt und der nächsten Feuerwehrstation eine kleine Spende überreicht. Seitdem werden wir in Ruhe gelassen.«
Mehr als 400 Gemeinschaftsgärten sind über ganz New York verstreut, viele davon sind erst in den vergangenen Jahren dazugekommen. Immer mehr junge Menschen engagieren sich für den Anbau gesunden Gemüses. Die gemeinnützige Organisation »596 Acres« beispielsweise hat fast 600 Flächen vor allem in Brooklyn ausfindig gemacht, die zurzeit nicht oder nur unzureichend genutzt werden und zumindest vorübergehend Gärten werden könnten. Eine Karte im Internet zeigt die Standorte an, Nachbarn sind aufgerufen, sich die Plätze anzueignen und fleißig zu säen.
Hochwertiges Essen für untere Schichten
»Gemeinschaftsgärten sind häufig die einzigen Orte, an denen alte und neue Nachbarn aufeinandertreffen«, sagt Joanne Morse vom Trust for Public Land, der bei rechtlichen und organisatorischen Fragen zur Gründung von Gärten unterstützt und Gärtnern hilft, Land Trusts zu gründen. »Unser Ziel ist es, dass die Gärten sich letztlich selbst erhalten - auch ohne unsere Hilfe.« Der wichtigste Rat, den Morse neuen Gärtnern gibt: »Sie werden den Garten vermutlich nicht für immer halten können. Wenn sie nicht darauf vorbereitet sind, dass die Besitzer des Grundstücks oder die Stadt plötzlich andere Interessen haben, dann sollten sie lieber gar nicht erst anfangen zu pflanzen.«
Der Grund, warum Menschen neue Gärten anlegen, hat sich in den vergangenen 40 Jahren stark gewandelt, meint Morse. »In den 70er Jahren haben die Gärtner ihre Nachbarschaft gerettet. Sie haben die Brachflächen von Müll und Crack befreit.« Dass sie Gemüse anbauten, sei zweitrangig und eher Zufall gewesen. »Sie wollten irgendetwas mit dem Stück Land anfangen, und vom Gemüseanbau wussten sie nur, dass es möglich war.«
Heute gehe es den Gärtnern in erster Linie um den Anbau von Nahrungsmittel, um die Ernährungssituation vor allem in armen Gegenden zu verbessern. Viele neue Gärten werden daher in Vierteln in Brooklyn angelegt, in denen hauptsächlich Familien mit geringen Einkommen leben. Bedford-Stuyvesant ist ein solches Viertel, außerdem East New York.
Linda Cohen war von Anfang an nicht einfach nur Gärtnerin und auf gute Nachbarschaft aus. Sie gehörte mit Liz Christy zur »Green Guerilla«, wie sie heute noch mit Stolz erzählt. Die Gruppe eroberte Freiräume für sich und andere New Yorker und existiert noch immer. Cohen zog es allerdings schon bald weiter. Sie engagierte sich für »Adopt a Building«, eine Gruppe, die leerstehende Häuser besetzte und sie Obdachlosen überließ. Gemeinschaftsgärten hat sie erst vor Kurzem wieder für sich entdeckt. Doch auch heute geht es ihr nicht ums Gemüse. »Mich hat die Fehlernährung vieler Kinder wieder zu den Gärten gebracht«, sagt Cohen. Gemeinschaftsgärten müssen Menschen mit niedrigem Einkommen qualitativ hochwertiges Essen ermöglichen, fordert sie. »In vielen armen Gegenden gibt es heute keinen zu Fuß erreichbaren Supermarkt - es gibt einen McDonald's, aber keinen Supermarkt.«
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.