Vom Rudern und Zurückrudern

Noch einmal: der Fall Drygalla. Was ist hier eigentlich der Fall?

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 7 Min.

Was weiß ein Fremder?
PETER HANDKE

Sie erschießt ihn. Obwohl sie ihn liebt. Nein, weil sie ihn liebt. Die schöne Bolschewikin den attraktiven weißen Offizier. »Der letzte Schuss« hieß der sowjetische Film von Grigori Tschuchrai, es ist ewige Zeiten her. Ästhetik des Klassenkampfes. Wer gegen wen - immer auch als Frage: Wer mit wem?

Beispiele über Beispiele in der Kunst. Feindesliebe. Das ist verachtenswerte Liebe. Man kann furchtbar falsch lieben. Das sehen alle ein, nur leider die Liebe, die nicht. Da ist der deutsche Soldat, der verbotenerweise eine Jüdin liebt, in Konrad Wolfs Film »Sterne«. Da sind die Tagebücher von Hanns Cibulka, der Besatzer liebt eine Polin. Viele solcher Werke müssen pflichtgemäß ein trauriges Ende nehmen, Fronten sind Herztrennschneider.

Die Wirklichkeit übernimmt: Sie erzählt zum Beispiel vom DDR-Mädchen, das sich in einen verliebt, der einen Ausreiseantrag stellte. Oder sie erzählt vom Mann, der eine von »drüben« heiraten will. Wer verliert daraufhin den Arbeitsplatz? Nur jene, die's unmittelbar betrifft, oder wird sogenannte Sippenhaft betrieben? Staatsfeind ist nie immer nur einer. Jüngst im Kino: »Barbara«. Durfte in der DDR hochrangig werden, in dessen Familie jemand aktive Westkontakte hatte?

Nächste Geschichte: Darf einer weiterhin ein bundesdeutscher Moralflagger sein, der leider erst mit fast »letzter Tinte« eine jugendliche SS-Phase gesteht? Grass also? Und wie ist über Strittmatter zu denken? Nicht zu vergessen sei in dem Zusammenhang Bayreuths runen-verzierter Sänger Nikitin, der nach Hause muss - während Regisseur Jonathan Meese, dem der rechte Arm gern hochgeht, natürlich nur provokativ!, schon im Anmarsch auf den Grünen Hügel ist.

Lauter Fälle, bei denen ein landestypischer, seit Generationen wirkender Widerspruch deutlich wird: erst Langmut (etwa mit hochdiensthabenden Altnazis wie Filbinger oder Globke), dann plötzlich, schon bei der geringsten Gesinnungsprüfung, vor Übereifer eine zumindest atmosphärische Lust an Inquisition, die sich, freilich, Gewissen nennt. Und die auf ihre Flagge großlettrig schreibt: Wehret den Anfängen! Der Schoß ist fruchtbar noch ... Erst also das Augenzwinkern einer reaktionär tradierten Großmut, dann die böse schmalen Augen des ideologischen Ordnungsamtes. Erst hat keiner was geahnt, dann haben alle das, was sie nie vermutet hätten, schon immer gewusst. Plötzlich sind alle derart wach, dass ein Albtraum droht vor so viel politischer Lauterkeit.

Man müsste wahrscheinlich noch weitere, in Deutschland freilich immer wieder leicht abrufbare Fälle politischer Zwielichtigkeit herzerren, um wirklich jene übergroße Last zu verdeutlichen, die jetzt auf der Rostocker Ruderin Nadja Drygalla zentnert. Die Frau mit dem Nazi im Bett. Huch!

Natürlich muss aufgeklärt werden, und Wahrheit tischt sich scheibchenweise auf, denn sie muss wohl oder übel geschluckt werden. Trotzdem: sehr verschlungen, diese Beziehung zwischen öffentlicher Person und politischer Gesinnung, zwischen politischer Gesinnung und privaten Freiheitsrechten. All jene, die nun im Falle der Olympionikin verunsichert und aufgestört in Aufklärungs- und Rechtfertigungsarbeit strampeln, als steckten sie in einer Falle, und auch alle, die über sie moralisch richten und enthüllend schreiben, als seien sie selber rundum Gerechtfertigte und also berufen zum Blitzurteil, zum Blitzaburteil, zum Nachurteil, das schon wieder Vorurteile zu stapeln scheint - sie wirken sämtlich wie ein Trupp, der einfach dankbar ist für eine weitere Gelegenheit zu forcierter Überlegenheit.

Man sagt, schimpft, verachtet, raunt, man schreibt »Drygalla«, aber man meint gleichzeitig das gesamte Stimmungspaket rund um Zwickau, Verfassungsschutz, Polizeischlamperei, Nazidulderei, Rechtsruck, Ordnungsgier, Staatshass; man ist zu Kritik berufen, als sei es ein Kampf, da ist jeder Name, jede Biografie hauptsächlich Munitionszufuhr. Und wer nicht so aggressiv und selbstgerecht sagt, schimpft, verachtet, raunt, schreibt, der besetzt hurtig die andere Waagschale: Trauerschunkeln im Mitleid. Alle haben irgendwie recht, doch nichts ist stimmig.

Dass man politisch korrekt ist, beweist man am besten, indem man anderen nachweist, dass sie es an der falschen Stelle sind. Wenn man unter diesem Aspekt alle derzeitigen Äußerungen zum Fall D. zusammenlegt, ergeben sich Hektik, Eifer, Beflissenheit. Arbeitsnachweis eben. Der Pluralismus der Meinungen hat dann stets so viel Wirkliches wie ein Dschungel, gezeichnet in einem Disney-Studio: Die Arbeit teilen sich lauter Spezialisten, der eine für Tigerkrallen, der andere für Samtpfoten.

Darf jemand in einem Land, in dem Nazis eine legale Partei bilden, keinen Nazi lieben? Darf jemandem diese Beziehung zur Laufbahngefährdung werden, solange er diese Laufbahn nicht für demokratisch unvertretbare politische Zwecke missbraucht? Welche Schutzgrenze liegt zwischen Achtung und Ächtung? Es drängt sich das Gefühl auf, dass an einer 23-Jährigen ein unangenehmes Exempel statuiert wird.

Der Autor dieser Zeilen würde diesen Satz umgehend zurücknehmen, hätte er das Gefühl, die täglichen Veröffentlichungen aus den Gesinnungswächtereien erhellten die Rechts- und Faktenlage. Die aber scheint mit jeder Veröffentlichung zum Fall D. nur immer undurchsichtiger zu werden und belegt die deutsche Manie zum Kraftsport, alles aufzureißen bis zu einem Grund, egal, was dabei möglicherweise kaputtgeht.

Wäre zum Beispiel die NPD eine verbotene Partei, läge die Sache klar. Diese Partei aber ist (noch) legal, und es gehört - trotz der quälenden, bitteren, auch beschämenden Begleitumstände dieser Tatsache - zu den Jahrhunderttugenden einer Gesellschaft, dass es in ihr verteufelt schwer ist, eine Partei zu verbieten. Wenn es heute blöde, geistlose, giftige, unerträgliche Rechte gibt, so ist das in gewisser Weise der unabwendbare Nachholeffekt einer Freiheit, die den Linken Jahrzehnte vergönnt war, eine Handlungsfreiheit, die ebenfalls Nähe zu Radikalismen aufwies, eine Freiheit, die den Achtundsechzigern zum Staatsposten verhalf und die inzwischen auch den demokratischen Sozialisten in jene parlamentarische Festposition brachte, die hauptsächlich nur sie selber noch gefährden können. Und inmitten dieses Spektrums politischer Möglichkeiten wird hart oder zu nachgiebig, angemessen oder ungerecht, demagogisch oder bedenkenswert über Extremismen gestritten - bei eindeutiger Wahrheit, dass linke Extreme umstürzlerisch sind, rechte aber nachweisbar auch mörderisch.

Politisches Recht und Strafrecht bilden dabei eine komplizierte, mitunter schwer aushaltbare Spannung. Extremismus, diese fanatische Moral Abtrünniger, in Graden zu dulden, dies ist eine Tugend, welche die Freiheit immer wieder zu einem Drama erhebt, auch zu einem Drama des Bösen, dem Paroli zu bieten ist. Geringer war der Preis der Freiheit nie. Weil deren häufigste Erscheinungsform der geistige Missbrauch ist, bedeutet Demokratie nicht die bessere Welt der besseren Menschen, es ist »nur« die Welt mit der größeren Aushalt- und Ausgleichskraft. Übrigens des linksradikalen wie des rechtsextremen Spektrums.

Wenn Nadja Drygalla einen Nazi liebt, ist das ihre Sache. Es beweist zunächst nicht, dass sie selber Nazi ist, es beweist vorerst doch nur, dass Beziehungen, die Menschen eingehen, ein Mysterium bleiben, dem Unwägbarkeiten zwischen Vernunft und Gefühl eingeschrieben bleiben. Das entschuldigt keinen Sittlichkeitsverstoß und keinen Rechtsbruch. Aber wenn schon Sportverbände ein solches Mysterium nicht aushalten, wenn ein Mensch ob dieses Mysteriums, quasi im Handumdrehen und als stürze der Kasus aus dem Niemandsland auf alle herab, zum olympisch peinlichen Fall wird, dann fühlt man sich nicht in einen arglosen Kreis forschender Gerechtigkeit versetzt, sondern in einen finster kreisenden Orden der Zurechtweisungen. Auf einmal so viele besorgt Fragende, so viele nervöse Antifaschisten - oder nur so viele Krähen, die auf eine junge Frau einhacken?

Nicht, dass Drygalla unschuldig wäre an ihrer Situation, aber die Frage, ab wann man, liebend, schuldig wird am anderen, so, wie man, einen anderen liebend, automatisch ein Stücklein unschuldiger wird - diese Frage ist doch wesentlicher. Vor allem - jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt - ist sie vorsichtgebietend. Und gerichtet gegen das öde rechthaberische Gewälze von halbgaren Recherchen. Oder gegen die verbissene Archäologie von Möchtegern-Investigativen, deren Hauptinstrument letztlich auch nur »Google« ist.

»Ich erschieße dich, mit der letzten Kugel, aber stirb beruhigt, ich lebe nicht wirklich weiter.« So die Revolutionärin im »Letzten Schuss«. Das schwer süffige Pathos der traurigen Treue zur richtigen Weltanschauung. Nicht sehr angenehm. Es ist da eine Hitze, die fröstelnd macht.

Der Fall der Rostocker Ruderin stellt möglicherweise eine sehr olympische Frage: Wer gewinnt Gold im Zurückrudern?

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