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Die Tödlichkeit des gebügelten Daseins
Milena Michiko Flašar: »Ich nannte ihn Krawatte«
Die Luft ist schwer und drückt auf die Erde herab. Ich bin ein zusammengedrückter Mensch. Ich nehme Abschied von einem, der nicht mehr wiederkommt.« Die Österreicherin Milena Michiko Flašar fackelt nicht lange. Bereits auf der ersten Seite ihres Romans »Ich nannte ihn Krawatte« kommt man nicht umhin festzustellen, dass es darin um ernste Dinge geht. Um sehr ernste. Doch wird das Ende der Geschichte kein nur düsteres sein, denn kaum später ist die Rede von einer »Bank, auf der ich lernen sollte, dass nichts so bleibt, wie es ist, und dass es sich trotzdem lohnt, auf der Welt zu sein«.
Taguchi, der 20-jährige Ich-Erzähler, ist ein Hikikomori. So nennt man in Japan jene meist jungen Menschen, die auf unbestimmte Zeit ihr Zimmer im Haus der Eltern nicht mehr verlassen, alle Sozialkontakte abbrechen und sich sozusagen lebendig vergraben. Zwei Jahre lang ist Taguchi nicht vor die Tür gegangen und nähert sich nun, ganz allmählich, dem Leben wieder an.
Flašar, Tochter einer Japanerin, lässt einen den Jugendlichen verstehen, der unter dem Gefühl leidet, »ein Niemand und weniger noch als niemand, ein Nichts zu sein«. Die wenigen Freunde seiner frühen Jahre sind zugleich Leidensgenossen. Allesamt verzweifeln sie am Dasein und an der Grausamkeit, mit der Kinder wie Erwachsene all jene behandeln, die als Sonderlinge gelten. Überflüssig zu erwähnen, dass die Geschichten der Freunde dramatisch verlaufen. So wie die Kumamotos, der sich mit erhobenen Armen in den Autoverkehr hineinstürzt. »Dies war seine Krankheit: Zu jung erkannte er, dass nichts vollkommen ist, und er war zu jung, um die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen. Dass dies auch meine Krankheit war, davor wollte er mich vielleicht warnen.«
Ganz anders »Krawatte« - ein Herr, den Taguchi auf seinen ersten Ausflügen in den Park trifft. Er ist Ende 50 und eigentlich völlig normal. »Seine gebügelte Gestalt war die tausender anderer, die tagein und tagaus die Straßen füllen.« Genau das ist es, was ihn umbringt. Nach 35 Jahren Lohnarbeit kann er nicht mehr. »Wer so seufzt«, denkt sich Taguchi, »ist nicht nur irgendwie müde.« »Nicht effizient genug«, lautete die Begründung für Krawattes Entlassung. Er versucht, den Schein zu wahren, traut sich nicht, es seiner Frau zu erzählen. »Wenn man nur verrückt genug wäre, alles anders zu machen«, sagte diese, die so ahnungslos nicht ist, einmal.
Milena Michiko Flašar beschreibt in sehr klarer, knapp gehaltener Sprache die Normierung und Zurichtung von Menschen in modernen kapitalistischen Gesellschaften, die zum Scheitern verurteilten Versuche, dagegen zu rebellieren - und das »Trotzdem«. Das Dasein als Hikikomori, ohne die Aussicht auf »Wiedereingliederung«, »Genesung«, »Arbeit«, »Erfolg« - dies seien ohnehin nur »dünne Versprechen«, mit denen man einige von ihnen aus ihren Kammern herauslockt, um sie zu »harmonisieren« - lässt sich als Überlebensstrategie lesen. »Indem man sich aussperrt, fällt man aus dem engmaschigen Geflecht von Kontakten und Beziehungen und man ist erleichtert darüber, nichts dazutun zu müssen. Diese Erleichterung: Man muss keinen Beitrag mehr leisten.«
Nicht die Beschäftigung mit den Grausamkeiten des Lebens, Depression und Tod an sich lassen das schmale Büchlein von 140 großzügig bedruckten Seiten bisweilen übermäßig schwer in der Hand liegen. Das macht der so sparsame Einsatz von Humor und Ironie und die Abwesenheit von jeglicher Distanz zum Beschriebenen, als meine die Autorin, dergleichen würde die Wirkung ihrer Worte schmälern. Stattdessen überlädt sie einige Stellen mit Ernst und Bedeutung und schreibt Dinge aus, die sie teilweise besser der Fantasie ihrer Leser überlassen hätte. »Ich musste an die zähe Ewigkeit eines eben erst angebrochenen, endlos hingestreckten Tages denken. Die Gewissheit, dass er vergehen würde, war nichts gegen die fade Melancholie, mit der er verging, und Melancholie, dachte ich weiter, was das Wort, das uns beiden auf die Stirn geschrieben stand. Es verband uns. Wir trafen uns in ihm.«
Milena Michiko Flašar: Ich nannte ihn Krawatte. Roman. Verlag Klaus Wagenbach. 140 S., geb., 16,90 €.
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