Optimismus, Feind des Schreibens

André Kubiczeks Roman »Der Genosse, die Prinzessin und ihr lieber Herr Sohn«

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 6 Min.

Das einzige Erbe, das die Mutter dem Sohn hinterlassen hat, ruht seit Jahren unangerührt in einem Umzugskarton im Keller. Ein Briefumschlag. Erst jetzt, da mehr als zwanzig Jahre seit ihrem frühen Tod vergangen sind, öffnet der Sohn das vergilbte Couvert, von dem er weiß, dass es biografische Notizen enthält, niedergeschrieben im Endstadium; Krebsstation, späte DDR. Das Geheimnis des Umschlags endlich zu lüften, hat der nun 40-jährige Sohn eine lange Reise hinter sich gebracht, fast eine Flucht - nach Südostasien: vom Vaterland ins Mutterland.

Der Schriftsteller André Kubiczek, 1969 in Potsdam geboren, ist Sohn eines Deutschen und einer Laotin. Sein fünfter Roman, »Der Genosse, die Prinzessin und ihr lieber Herr Sohn«, ist autobiografisch, ohne Autobiografie zu sein. Sorgsam gefilterte Erinnerungen, gründlich auf ihren Gehalt untersuchte Fundstücke, Kontaktaufnahmen entlang des Fadens, der zur eigenen Geschichte zu führen verspricht - solcherlei Bruchstücke verlorenen Lebens fügt Kubiczek hier zu einem Ganzen. Der Kitt aber, der das Gefundene zusammenhält, ist die literarische Erfindung.

Das geerbte Manuskript endet nach wenigen Seiten, mitten im Satz. Der Ich-Erzähler, später im Buch ein paar mal als »Kubi« adressiert, liest es in einem Hotelzimmer in Vientiane, der Geburtsstadt der Mutter. Erst auf dem Sterbebett hatte sie zum Stift gegriffen, um Erinnerungen an ihre Heimat, ihre Eltern, ihre Jugend festzuhalten. Das Schicksal der Familie im umkämpften Laos der späten fünfziger und frühen sechziger Jahre formiert sich um Kubis Großvater Quinim Pholsea, den späteren Außenminister des Landes, der 1963 von einem Leibwächter erschossen wurde. Aber viel mehr ist aus den Aufzeichnungen kaum zu erfahren, als dass diese Jugendjahre geprägt waren von Angst, Flucht, Exil: »Meine Mutter hatte offensichtlich gehofft, dass sie wieder gesund werden würde, und deshalb viel zu spät zu schreiben begonnen. Mit weniger Optimismus, dachte ich, wäre mehr von ihrem Leben erhalten geblieben.«

Als wäre sein eigenes Schreiben dazu ein Gegenentwurf - das Flüchtige festhalten, im pessimistischen Wissen um sein baldiges Vergehen - tritt der Erzähler von Vientiane aus Erinnerungsreisen in sein Leben an: die Kindheit in Potsdam, der schwere, in Verfall und Tod mündende Unfall des jüngeren Bruders, die Ferienaufenthalte bei den Großeltern im Ostharz, die NVA-Zeit in den späten Achtzigern, die Orientierungslosigkeit nach der Wende, das Studium, die Freundin, die Wohnung, die Auflösung sozialer Zusammenhänge, das Durchschlagen mit Gelegenheitsjobs.

Nach Laos gereist, um endlich seine große Familie dort kennenzulernen, schreibt er zunächst E-Mails nach Deutschland - an eine längst aus dem Blick geratene Schulfreundin zum Beispiel, die ihm hilft, Versunkenes aus dem Meer des Vergessens zu fischen. Aber wiedersehen will er sie nicht: »Eine Begegnung mit der erwachsenen Antje würde meine gesamte Erzählung von der Kindheit gefährden, und das wollte ich nicht riskieren.« Die Erzählung, aufgemerkt!, darf nicht in Gefahr geraten. Auch an Kupfer schreibt Kubi aus Vientiane, an jenen Stubenkameraden bei der Fahne, der viel später noch einmal auf den Plan treten - und vieles dauerhaft verändern wird.

Anekdoten und Stereotype sind die Magnetpole, zwischen denen Erinnerung schwingt und Gestalt annimmt. Bei André Kubiczek geschieht das mit einer Akribie, als blicke er durch ein Mikroskop in die Wellen der Vergangenheit. Dieses allgegenwärtige Verfahren der größtmöglichen sprachlichen Annäherung an das nicht mehr unmittelbar sinnlich Erfahrbare ist sogar in einer Szene zu erlesen, in der die Kochkünste der Großmutter geschildert werden: »Geschmortes Kassler mit Sauerkraut, das, frisch abgefüllt aus dem Holzbottich des dunklen, etwas muffig riechenden Gemüseladens in der Breitscheidstraße, sanft mit Zwiebeln, Piment, Lorbeerblatt und zwei, drei angedrückten Wacholderbeeren im eigenen Saft köchelte, bevor es kurz vor dem Auftragen mit einer Viertel Tasse Mehlwasser abgebunden wurde ...«

Es nimmt nicht wunder, dass derjenige, der mittels Worten derart das Wasser im Munde fließen zu lassen versteht, später im Buch selbst als Koch in Erscheinung tritt, mit eigenem Suppenrestaurant, gesponsert vom alten Armeekumpel Kupfer, der im Gegenzug allerdings Kubis Dauerfreundin Katharina in Beschlag nimmt.

Die Großmutter indessen, sie kann nicht nur kochen, sondern auch erzählen: Anekdoten aus ihrer schlesischen Heimat - »und ich hörte, fast süchtig nach diesen Erinnerungen an eine verschwundene Zeit, zu, ohne irgendetwas davon aufzuschreiben, ohne auch nur eine Notiz anzufertigen, weil ich dachte - denn so zu denken hieß hoffen - sie werde ewig weiterleben.« Da ist es wieder: das Schreiben als Eingeständnis der Vergänglichkeit. Wo aber auf Ewigkeit nicht mehr gehofft werden darf, entsteht eine andere Art Hoffnung: darauf, durch das Erzählen wenigstens ein Stück gelebten Lebens, wenigstens eine Weile lang, vor dem ewigen Verschwinden zu retten.

Eine Sonderstellung in diesem Roman nimmt ein 70-seitiges Kapitel ein, das »Kurzer Bericht über die Liebe« heißt. Im nüchternen Stil der Protokoll-Literatur, der in deutlichem Kontrast zum Ton der eigenen Erinnerung steht, gibt der Erzähler hier den Ertrag eines langem Schweigen abgerungenen Gesprächs mit dem Vater wieder. Diese Passage, in der wir erfahren, wie der junge Arbeitersohn, erkoren zum künftigen Kader und nach Moskau delegiert zum Studium der Außenpolitik, dort auf das Mädchen aus Laos trifft, das André Kubiczeks Mutter werden wird. Diese Geschichte einer frisch erblühten Liebe, die sich gegen politische und familiäre Widerstände aus allen Richtungen zu behaupten weiß, gehört zu den stärksten des Buches.

Kubiczek zeigt hier, dass er nicht nur ein feinsinniger Historiker der selbst erlebten Geschichte, sondern auch ein hellwacher Zuhörer ist, der sich Unvertrautes anzuverwandeln weiß. Denn dies Unvertraute - sei es die Erzählung des Vaters, sei es das fremde Land der Mutter - ist nichts geringeres als der Quell des eigenen Herkommens, Werdens, Gewordenseins. Über das Attentat auf den laotischen Großvater, der, wäre er nicht ermordet worden, die Beziehung von Kubis Eltern wohl zu verhindern gewusst hätte, heißt es einmal, ohne diesen Mord »hätte es mich nicht gegeben. [...] Nichts von dem, was mich heute ausmachte, wäre tatsächlich geschehen: die Kindheit nicht, gar nichts.«

André Kubiczeks Familienroman ist mit all seinen detaillierten Milieuschilderungen und Evokationen verschwundener Lebenswelten nicht zuletzt eine große Erzählung gegen das mähliche Schrumpfen des Lebens in der DDR auf Schlagworte wie »klein, grau, duckmäuserisch«. - »Als gäbe es keine originellere Sprache, die Vergangenheit zu beschreiben, die immerhin die Gegenwart unserer Kindheit gewesen war und auch die unserer Jugend, als gäbe es nur die dröge Sprache der Gegenpropaganda, das Zeitungsdeutsch für Zufallssieger.« Es gibt sie, hier kann man es lesen. Auf das »Ende der Geschichte« dürfen wir weiter warten.

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