Neuland beschritten
Der Dialog ist dort am nötigsten, wo er unmöglich scheint
Die Überraschung war perfekt. Nach Jahrzehnten erbitterter Auseinandersetzungen und Feindschaft zwischen SPD und SED präsentierten die Grundwertekommission der SPD und die Akademie für Gesellschaftswissenschaften der SED am 27. August 1987 erstmals ein gemeinsames Grundsatzpapier. Die Erklärung sorgte in Ost und West für Irritation. Nicht alle wussten sie produktiv zu nutzen. Statt die politischen Karten neu zu mischen, wurden sie nicht selten in die alten Muster einsortiert. Die Kritiker in der Bundesrepublik sahen darin einen »Verrat der Sozialdemokratie an der westlichen Wertegemeinschaft«, die in der SED eine beginnende »Sozialdemokratisierung« der Staatspartei und eine »Aufweichung der DDR«. Das gemeinsame Papier von SED und SPD und seine Folgen bleiben bis heute umstritten: in der Politik, in der Öffentlichkeit und auch in der Wissenschaft. Verwundern kann das kaum, denn mit diesem Unterfangen wurde Neuland beschritten und begann ein Experiment, dessen Ausgang zunächst offen schien.
Die Zuspitzung der menschheitsgefährdenden Konflikte - das atomare Wettrüsten zwischen Ost und West, der Nord-Süd-Konflikt und der globale Umweltkonflikt - in den 70er/80er Jahren hatte auch innerhalb beider Parteien Neues Denken befördert und zum Dialog angeregt.
Die von Anfang 1984 bis 1989 stattfindenden Gespräche zwischen der Grundwertekommission der SPD und der Akademie für Gesellschaftswissenschaften der SED sowie weiteren DDR-Wissenschaftlern waren ein Sonderfall der sonst üblichen deutsch-deutschen und auch SED-SPD-Kontakte. Gegenstand dieses Grundsatzdialogs waren die Fragen, die anderswo bewusst ausgeklammert, weil als störend empfunden wurden: die großen ideologischen Streitfragen des Ost-West-Konflikts, die Grundsatzfragen der vom Systemgegensatz geprägten Epoche. Heftig diskutiert wurden in offener und öffentlicher Form die universellen Werte Frieden, Fortschritt, Arbeit, Demokratie, Menschenrechte, gesellschaftlicher Wandel in Ost und West. Lernprozesse vollzogen sich dabei auf beiden Seiten. Der Gedanke eines »gemeinsamen Papiers« kam erst während der vierten Tagung im Februar 1986, als das Thema Friedenssicherung und Ideologie zur wohl spannendsten Diskussionsrunde insgesamt wurde.
In dem dann erarbeiteten gemeinsamen Papier wurde erstmals der untrennbare Zusammenhang zwischen Außen- und Innendialog formuliert. Beide Seiten sollten auf die Propagierung von Feindbildern verzichten und auch nicht mehr auf Abschaffung des anderen Systems setzen, sondern auf dessen Existenzberechtigung und seine Friedens- und Reformfähigkeit. Notwendig seien eine umfassende Informiertheit der Bürger, die offene Diskussion in Ost und West über den Wettstreit der Systeme, ihre Erfolge und Misserfolge. Plädiert wurde daher für eine neue politische Kultur des Dialogs und der Ko-Evolution der Gesellschaften in Ost und West. Der bekannte Schriftsteller Rolf Schneider sprach kurz darauf in einem »Spiegel«-Essay vom SPD-SED-Papier als »Magna Charta einer möglichen Perestroika in der DDR«.
Kein abgestimmtes Auftragswerk
Es kam deshalb für alle, gerade auch für die zwei ost- und zwei westdeutschen Autoren des Papiers, überraschend, dass Erich Honecker (buchstäblich über Nacht) und danach auch das SED-Politbüro einem solchen Ideologiepapier zustimmten. Noch dazu, da es kein Auftragswerk und nicht mit der SED-Führung abgestimmt war. Erich Honecker wie dem Politbüro galt das Papier als »wichtiger Akt der DDR-Friedenspolitik« und Schritt der Einbeziehung der SPD in die angestrebte »Koalition der Vernunft«. Nur darauf konnte und durfte es nicht beschränkt bleiben. Ein strategisches Konzept des Umgangs mit diesem ungewöhnlichen Streitpapier wurde aber nicht diskutiert. Was sich damals bereits abzeichnete und später bestätigte - Sinn und Anliegen des Papiers und die mit ihm verbundene und unverhoffte Chance wurden nicht erfasst. Honeckers Öffnungsexperiment nach außen war ohne die erforderlichen innenpolitischen Folgerungen gedacht. Die SED glaubte, ihre bisherige Doppelstrategie - Dialog und gewisse Flexibilität nach außen, Dialog- und Reformverweigerung nach innen - unbeschadet fortsetzen zu können. Doch genau diese Strategie scheiterte in der Folge zusehends.
Ein Umdenken fand nicht statt, weder in Ost noch in West. Im Westen dominierte die konservative Ablehnungsfront. Breite Ablehnung erfuhr bei den herrschenden Kreisen besonders die These vom politischen Veränderungsbedarf im eigenen Bereich, der nur bei der anderen Seite gesehen wurde.
In der SED entwickelte sich nach Verabschiedung des Papiers und seiner Veröffentlichung im »Neuen Deutschland« ein relativ offener und kritischer Meinungsstreit um die neuen Begriffe und die alten Glaubenssätze. Genau genommen war es die lebhafteste, interessanteste und strittigste Diskussion seit den 60er Jahren. Es dominierte zunächst ein Gefühl der Erleichterung und der Hoffnung, mit den Veränderungen in Moskau und dem gemeinsamen SED-SPD-Papier nun endlich die ideologischen Schützengräben verlassen und offener über die drängenden Probleme in der DDR diskutieren zu können. Unter DDR-Intellektuellen vollzog sich eine Debatte, die auch im Westen als Reformdiskurs von Sozialisten Beachtung fand.
Eine fast einhellige Zustimmung zum SPD-SED-Papier gab es in der Evangelischen Kirche der DDR, stimmten doch viele Forderungen des Papiers mit ihren eigenen überein. Entgegen zeitgenössischen Deutungen fand das gemeinsame Dialogpapier selbst bei einer Mehrheit in den Bürgerrechtsgruppen zunächst einen alles in allem positiven Widerhall. Das Papier diente Bürgerrechtlern zugleich als Berufungsinstanz für ihre seit langem erhobenen, kritischen Forderungen an die DDR-Führung.
Auch international fand dieses Dialogpapier erhebliche Resonanz - gerade auch unter kommunistischen Parteien in Ost- und Westeuropa sowie in der Sozialistischen Internationale.
Ein erstaunlich aktueller Effekt
Trotz unterschiedlicher Reflexionen war das SED-SPD-Dialogpapier in der DDR-Gesellschaft mehrheitsfähig geworden, doch anders, als es sich die SED-Führung vorgestellt hatte. Dabei ging es dieser Mehrheit damals keineswegs um Abschaffung der DDR, sondern um deren Demokratisierung und den notwendigen gesellschaftlichen Wandel in Ost und West. Eine für die DDR der 80er Jahre einmalige Situation und Chance.
Der Dialog als eine spezifische Form der öffentlichen Diskussion und Meinungsbildung kollidierte in der DDR bald mit dem Monopolanspruch der SED auf Wahrheit. Die konservativen Kräfte und Hardliner gingen zur Gegenoffensive über. Das »außenpolitische« Papier werde, so hieß es nun, als innenpolitisches Dokument »missbraucht«. Die daraufhin eingeleitete Missbrauchskampagne seitens der SED-Führung sollte den Geist wieder in die Flasche zwingen.
Die Medien wurden angewiesen, »nichts mehr zu diesem Thema des Dialogpapiers zu bringen«, da es zu »Konfusionen und Illusionen in der SED« geführt habe. Das Papier durfte bereits im Herbst 1987 nicht mehr als Broschüre publiziert werden. Der Druck auf die kritisch eingestellten Genossen und Parteiintellektuellen nahm zu. Viele lavierten oder gingen »in Deckung«. Die konservativen Kreise und Apparate der SED konnten sich noch einmal durchsetzen. Es wurde jedoch ein Pyrrhussieg, denn die Glaubwürdigkeitskrise der SED-Führung vertiefte sich zusehends.
Die 89er-Bewegung in der DDR-Bevölkerung stellte alsbald Forderungen, die weit über die des SPD-SED-Papiers hinaus reichten. Für die Ereignisse im Herbst 1989 war jedoch typisch, dass es nicht nur eine Bewegung gegen die Staatspartei gab, sondern auch eine Reformbewegung in ihr.
Sinn und Anliegen des Dialogpapiers sind jedoch gerade im Rückblick nicht in Frage gestellt. Nicht die Politik des Abstandhaltens, sondern die Politik des Dialogs hat zur Zivilisierung des epochalen Ost-West-Konflikts und zur Öffnung der geschlossenen Ost-West-Strukturen beigetragen. Sie hat partiell die politische Kultur in der DDR und innerhalb der SED verändert, dort das demokratisch-sozialistische Potenzial gestärkt und schließlich zum friedlichen Verlauf des zunächst nichtintendierten Umbruchs 1989 beigetragen.
Was bleibt? Die politische Situation hat sich nach 1989/90 grundlegend verändert. Das Dialogpapier ist ein Zeitdokument und Geschichte geworden. Der Abstand zum Geschehen hat jedoch einen erstaunlichen Effekt: Er macht deutlich, wie aktuell es heute ist. Die notwendige sozialökologische und solidarische Transformation betraf nicht nur den Osten, sondern auch den Westen. Was damals schon in den gemeinsamen Gesprächsrunden und besonders im gemeinsamen Positionspapier angedacht wurde, wird heute noch offensichtlicher. Die Transformation im Osten ist dann eben nicht das Ende, sondern lediglich der Auftakt einer neuen, großen Transformation; im Osten und gerade auch in den westlich-kapitalistischen Gesellschaften.
Und - Dialog ist dort am nötigsten, wo er unmöglich scheint. Das gilt auch heute, wo neue globale politische Gegensätze und Feindbilder, herkömmliche und »neue« Kriege das Bild unserer Zeit prägen. Der Ausweg ist nicht die Militarisierung des Politischen, sondern die Suche nach Dialog, nach Verständigungsprozessen, in denen trotz konträrer Ausgangslage gemeinsam nach Lösungen gesucht werden muss.
Eine friedvolle, ökologische und solidarische Weltgesellschaft schrittweise zu erringen und zu gestalten wird zur größten Herausforderung des 21. Jahrhunderts und erfordert wiederum eine neue Kultur des Dialogs und eine neue globale gesellschaftliche Transformation. Dies verlangt deshalb mehr denn je den kritischen und gleichberechtigten Dialog zwischen den pluralen Links- und Reformkräften, damit sie sich dieser neuen Herausforderung verantwortungsbewusst stellen können.
Termin-Hinweis: »Vom Dialog durch die Mauer zu Dialogen im Zeitalter neuer globaler Konflikte«
Original-Dokument unter www.nd-aktuell.de/sedspdpapier
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