Kopftheater und Opernsalat

Zur Eröffnung der Ruhrtriennale inszenierte Heiner Goebbels in Bochum »Europeras 1 & 2« von John Cage

  • Roberto Becker
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Richard-Wagner-Festspiele in Bayreuth haben ihre Dramaturgie in den Genen. Beim zyklischen Rauf und Runter des Stückekanons entsteht der geistige Funkenflug durch Reibung am politischen und ästhetischen Zeitgeist fast von selbst. In Salzburg hingegen hat der neue Intendant Alexander Pereira den dramaturgischen Ehrgeiz eines Gerard Mortier, Peter Ruzicka oder letztjährig (und bis auf weiteres letztmalig) unter dem Interimsintendanten Markus Hinterhäuser entsorgt und scheint nun wild entschlossen, nachhaltig zu einem kulinarischen Luxus zurückzukehren, mit dem er sich getrost auf Herbert von Karajan berufen kann.

Bei der viel jüngeren, gleichwohl längst etablierten Ruhrtriennale ginge so etwas, selbst wenn es irgendjemand wollte, nicht - schon wegen des Prinzips, einen Intendanten nur für drei Jahre machen zu lassen, was er will (bzw. was ihm einfällt). Das schließt den radikalen Bruch ein. Gerard Mortier, Jürgen Flimm, Willy Decker und jetzt Heiner Goebbels - schon die Namen und die dahinter stehenden künstlerischen Temperamente sorgen hier für divergierende Ansätze.

Auf Ergänzungs- oder Event-Kulinarik zu setzen, das verbieten auch die Räume, die der erste Triennale-Intendant Mortier einst nach seinem Wechsel von der Salzach an die Ruhr zu neuem Leben erweckt hat. Die Hochburgen der Schwerindustrie sind in ihrem zweiten Leben zu Hochburgen für die Kultur geworden. Sie bieten trotz fortschreitender Erosion der Kultur- und Stadttheaterszene in Nordrhein-Westfalen eine zusätzliche Ebene für die Opern- und Theatermacher und haben längst auch ihr Publikum gefunden.

Das Programm, mit dem der Komponist und Theatermacher Heiner Goebbels (60) in den nächsten drei Jahren von August bis September aufwartet, dürfte die Grenzen der traditionellen Kunstformen und ihrer Rezeptionswege in Frage stellen und aufbrechen. Doch ganz ohne Event-Zutaten kommt auch ein mit theoretischem Überbau oder Unterfutter versehenes Festspielmenü nicht aus. Bei der Eröffnungspremiere mischten sich unter die NRW-Prominenz (von Hannelore Kraft über Norbert Lammert bis zu Fritz Pleitgen) auch der deutsche Großmaler Gerhard Richter und, gleichsam als Gruß aus linken Frankfurter Sponti-Tagen, Daniel Cohn-Bendit.

Was sie in der ausverkauften Bochumer Jahrhunderthalle zu sehen bekamen, war eine, wenn auch ganz selten gespielte, Ikone einer späten Moderne. Der in diesem Jahr mit seinem hundertsten Geburtstag wieder etwas mehr in den Blick gerückte John Cage (der derzeit mit diversen Ausstellungen gewürdigt wird) hatte das von ihm so geschätzte Prinzip Zufall 1987 auf die Oper, genauer auf die Opern angewandt; das Ergebnis: »Europeras«. Über sechzig prominente und weniger bekannte Prachtstücke der Gattung aus den letzten dreihundert Jahren hat Cage verhackstückt und in kleinsten Portionen wieder zusammengefügt, neben- und übereinander geschichtet, dabei jeden Zusammenhang zwischen dem jeweils Gesungenem, Erklingenden und Gezeigten aufgehoben und derart auf eine befremdlich vertraute Art etwas Neues geschafften. Vielleicht auch nur simuliert.

Die Regie, die Heiner Goebbels übernommen hat, ist in Bochum mehr eine logistisch organisatorische Meisterleistung der schnellen Schnitte. In einem genauen Zeitraster (für »Europeras 1« stehen genau 90 Minuten, für den zweiten Teil 45 zur Verfügung) müssen die Musiker des Festspielorchesters der Ruhrtriennale über und neben der Szene verteilt werden. Die zehn Sänger, gewandet in Kostüme von Florence von Gerkan, die die Operngeschichte sehr schön auf ein paar Figurenpunkte bringen, müssen vom einen Ende ans andere geführt werden. Und in einem 90 Meter tiefen Bühnen-Raum sind die 32 barock opulenten Bühnenbilder von Klaus Grünberg auf- und abzubauen. Mit der Erfüllung dieser Aufgaben stellt die Regie kein nachvollziehbar ablaufendes Musiktheater her, sondern ein visuelles und akustisches Grundrauschen der Oper an sich.

Das klingt revolutionärer, als es ist. Urwald und Ungeheuer, brennender Tempel und strandendes Segelschiff, Riesenfisch und Schäfchenwolken, ein Rokoko-Logentheater vom Feinsten und eine Adolphe-Appia-Treppe vom formal Strengsten geben sich ein Stelldichein. Das sieht ziemlich teuer aus und funktioniert fabelhaft. Damit entsteht das Theater im Kopf, auf das Goebbels mit diesem Cage hinaus will, tatsächlich. Dabei bleibt es aber vor allem ein auf sich selbst bezogenes Kunstereignis.

Im Einzelfall gelingt es der multimedialen Kunstform Oper, das Genre in die europäische Kulturgeschichte zwischen höfischer Selbstbespiegelung, avantgardistischer Attacke und aufwühlend kontroverser Selbstverständigung einzubetten. In Bochum bleibt es der Assoziationsbereitschaft des Zuschauers anheimgestellt, ob die hier mit imponierender handwerklicher Perfektion zelebrierte musikalisch vokale Vielstimmigkeit das schafft. Auch die offenbar als viel zu profan verworfene Frage, ob die chaotische Vielstimmigkeit von »Europeras« nicht ein Sinnbild für die Diskurse sein könnte, die im realen Europa von heute große Fortschritte ebenso markieren wie die Gefahren des Scheiterns und der Regression, schwebt ungestellt im Raum. Sie zu beantworten, ist vielleicht zu viel verlangt von einem Kunstwerk, das selbst Teil eines ästhetischen Diskurses war. Heute ist es das leider nicht mehr. Auch wenn die Bochumer Jahrhunderthalle dank ihrer Vergangenheit und Bedeutung einen eigenen Kommentar beisteuert, war »Europeras 1 & 2« eine ziemlich domestizierte Angelegenheit. Ohne Verstörungsgefahr.

Weitere Aufführungen am 21., 29., 31.8. und am 2. 9.

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