Eine Zufalls-Operation
John Cage zum 100. Geburtstag
Das ist die Absichtslosigkeit seiner Ästhetik.
Aber selbst wenn der Amerikaner Absichtslosigkeit vorgibt, spielt er immer mit Modellen, die jeder Mensch in sich hat und die im Grunde zu einer humanen Qualität führen können, und seien sie noch so einfach. Es findet eine Kommunikation statt, eine, die nicht darauf hinausläuft, den anderen zu vernichten, Kriege zu führen, jemand um sein Geld zu bringen, jemand aufzufressen oder seinen Hund zu erschlagen. Das wird nicht vorkommen. Das ist der größte gemeinsame Nenner von Aufklärung. Wie könnte der Interessent sonst mit Joyce, Beckett, Duchamp, Beuys umgehen, wie könnte er mit der ganzen westlichen Kunstästhetik umgehen, die ja durchaus ihre großen Momente hat.
... das Chaos der Gleichzeitigkeit rumorender wie stummer Medien. 1955 entsteht »Speech« für 5 Radios mit Zeitungsleser, 1956 die »Radio Music« für 1-8 Radio-Spieler. Die Telefonkommunikation bindet der Komponist 1977 mit Vogelstimmen in »Telephones and Birds« zusammen. »33 1/2« heißt ein Stück für 12 Plattenspieler (1969). Cage verwirklicht Dinge, die erst viel später ins Gesichtsfeld von Kunst gerieten. Die rigide Ausweitung dessen, was er unter Klang und Klangkunst verstand, ist in den Szenen heute Allgemeingut. Niemand ficht das mehr an. Cage multipliziert Klänge und sonstige Materialien, schichtet nach Zufallsprinzipien eine Mehrzahl Tonspektren, verschiebt Klangfolien nach Belieben gegeneinander und entlockt damit dem Klangprozess auf oft gedehnter Zeitachse ein anarchisches Treiben. Man mag das ästhetisch missbilligen, an dem Artefakt, dass hier Wichtiges entdeckt worden ist, dürfte nicht zu rütteln sein. Im Bereich des Musiktheaters finden sich ähnliche Verfahren. Verfügbare Opernaufführungsmodelle schiebt Cage zu einer einzigen zusammen (»Europera 1 & 2«).
Riesengewese um seinen Hundertsten - die halbe Welt, die sich Musikwelt nennt, hebt den schmächtigen, fröhlichen Mann empor, so hoch, dass der schlottert vor Angst, seiner Heiterkeit entsagt und darüber irre wird, was man ihm antut. Wo er doch viel lieber die Podeste umstürzen und mit den Heiligkeiten der Kunst aufräumen wollte. Manager, Hochkulturelle, Finanziers, Klangjongleure aller Couleur, zumeist der Kunst fern stehend, bestimmen, wer Cage ist, wie er klingt, ob die Geigen und Oboen singen oder schweigen, ob auf eine Note fünfzig Instrumente kommen oder keines. Vieles, wenn nicht alles läge in ihrer Hand, glauben sie. John Cage hat diesem Glauben zugearbeitet. Doch die Schwemme, die jetzt über die Länder geht, dem Cage zu klauen, was des Cages ist, hätte der Amerikaner wohl nicht zu vermuten gewagt.
Arnold Schönberg nimmt Cage kostenlos in seine Kompositionsklasse auf. Der Schüler trennt sich vom Lehrer, weil er dessen Harmonieprinzipien verwirft, und favorisiert ein Denken, »das jedem Klangelement die gleiche Qualifikation notwendig zuerkennt«. Das schließt ein: Wie die Menschen seien auch alle Klänge gleich geschaffen und gleichberechtigt, obwohl jeder Einzelne anders klingt als der vorherige oder folgende. Ein Gedanke, der an Belang gewinnt, bedenkt man die Strukturen einer der neuen Musik vielfach feindlichen Umwelt in den USA, und die einer aufstrebenden Musikindustrie, der nichts heilig war und ist und die nichts und niemand schont, die, wenn angesagt, auch an der Beseitigung der Cage-Welt arbeitet, nicht zu reden von den Schrecken, als Cage jung war und während der Weltwirtschaftskrise wie die heutigen Jobber sich in den verschiedensten Tätigkeiten verdingen muss und sogar eine Zeit lang obdachlos ist. +++ John Cage, Sohn eines elektrotechnischen Erfinders, wird selbst Erfinder. Was die elektronische Musik ausmacht, findet sich schon in dem 1937 verfassten Manifest »The Future of Music: Credo«. Cage verlangt darin, wie vor ihm schon die Deutschen Kurt Weill und Guido Bagier, dass Musikern oder Klangorganisatoren, wie er sie nennt, Laboratorien zugänglich sein sollten, offen für die Schaffung von Klängen »jeglicher Frequenz, Amplitude und Dauer«. »Der Komponist wird nicht allein dem gesamten Klangfeld, sondern desgleichen dem gesamten Zeitfeld gegenüberstehen.«
Doch ohne ein Quäntchen Ausdruck ist die von Cage kreierte Musik nicht zu haben. Menschen- und lebensfern ist in Wirklichkeit die alle empfindlichen Sinne beleidigende Surrogatwelt der Zerstreuungsindustrie.
John Cage ist in allem, was er tut und denkt, ein Liberaler und, wie die meisten seinesgleichen, stolzer Amerikaner, gepaart mit Entdeckerstolz aus dem Erbgut seines Vaters. Revolutionäre Ideen, hergeleitet aus dem Verständnis, dass erst tief greifende Umwälzungen eine menschlichere Welt ermöglichen, bleiben ihm fremd. +++ Sämtliche entdeckerische Ansätze laufen bei Cage auf pragmatische Ansätze hinaus. Speziell im klanglichen Bereich werden sie ab einer bestimmten Zeit genährt durch Formeln des altchinesischen Orakelbuchs »I Ging« und des Zen-Buddhismus. »Der Zweck der Musik ist es, das Bewusstsein zu ernüchtern und zu beruhigen, um es dadurch für göttliche Einflüsse empfänglich zu machen.« Von dort leiten sich Stücke meditativen Charakters her. Es sind die dürrsten Arbeiten des Amerikaners. Für sie zeigt sich eine breite Anhängerschar nach wie vor empfänglich. +++ Wenn Cage ein Weltbild zuzuschreiben ist, dann das transzendentale, nonkonformistische eines Henry David Thoreau. Er hat Thoreau 1967 entdeckt, und seither ist er Thoreauist, der die Ganzheit der Natur, namentlich die klangliche, in seine künstlerischen Überlegungen einbezieht.
Musik gehöre in den freien Raum, stellte sich Cage vor, sämtlicher Grundlagen enthoben, der harmonischen allenthalben, fern dem Errungenen, Geordneten, fern der stolzen Begrifflichkeit der Moderne. John Cage, sympathisch, immer lächelnd, anarchisch, wollte nie etwas ausdrücken. Inhalte zählten für ihn nicht. Der Gesang der Vögel schien ihm einer Mozartmusik ebenbürtig.
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