Kreuzberg-Brigadistas in San Rafael del Sur

Eine Städtepartnerschaft widmet sich der integrierten Armutsbekämpfung

Berlin und Nikaragua stehen im Herbst vor Wahlen. Der Spielraum für potenzielle »Linksregierungen« ist beiderorts gering. Doch Spielräume gibt es immer, wie die Städtepartnerschaft Berlin-Kreuzberg - San Rafael del Sur seit 15 Jahren zeigt.
Berlin ist im Umbruch und mit sich selber beschäftigt. Sparzwang, Bezirksfusion, Übergangssenat. »Es ist schwierig, derzeit ein offenes Ohr für unsere Arbeit zu finden«, so Dieter Radde gegenüber ND. Politisch stehen zwar alle hinter der Städtepartnerschaft, aber die lokalen Herausforderungen scheinen den Blick über den Tellerrand momentan zu überlagern, so der Vereinsvorsitzende weiter.
Dass die Städtepartnerschaft ihr 15-jähriges Jubiläum feiert, ist komplett untergegangen. Trotz mehrerer Anfragen gabs bisher seitens keiner Fraktion des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg eine Einladung zur Projektvorstellung. Dabei, so Radde, hat die Vergangenheit gezeigt, dass die persönliche Anschauung Ohren und Türen öffne. Delegationen der Kreuzberger Bezirksverordnetenversammlung überzeugten sich mehrmals vor Ort in Nikaragua vom Sinn der Projekte, die das Ziel einer integrierten Armutsbekämpfung verfolgen.
Partizipation wird dabei groß geschrieben. Ein Kriterium für ein Projekt ist, dass der Vorschlag aus der Bevölkerung kommt, ein anderes, dass das Projekt so weit wie möglich durch aktive Eigenbeteiligung der Begünstigten umgesetzt wird. »Auf Firmen wird nur zurückgegriffen, wenn es nicht anders geht«, so Radde, »beim Bohren eines Trinkwasserbrunnens zum Beispiel«. Dass es sich um lokale Firmen handelt, ist dabei selbstverständlich.
Die Bevölkerung einzubeziehen, ist kein Selbstzweck. »Es geht darum, Widerstandspotenziale in der Landbevölkerung zu entwickeln«, so Radde. Mit Erfolg. Mitte der neunziger Jahre entstand in der Partnerregion San Rafael del Sur (eine Kleinstadt und 58 Dörfer) die eigenständige nikaraguanische Nichtregierungsorganisation (NRO) Centro de Desarrollo Rural (CEDRU) (Zentrum für Ländliche Entwicklung). Die NRO kooperiert nicht nur mit dem Kreuzberger Verein, sondern verwirklicht inzwischen auch eigene Projekte, worauf Radde sichtlich stolz ist.
Partizipation ist wiederum keine Einbahnstraße. Der Kreuzberger Verein hat rund 130 Mitglieder und lebt vom Ehrenamt. Der einzige dauerhaft Hauptamtliche, Franz Thoma, koordiniert in Nikaragua die Projekte. Daneben gibt es noch eine vom Arbeitsamt finanzierte Stelle im Kreuzberger Büro der Partnerschaft, die Tilo Ballien innehat und die im März 2002 ausläuft. Die Ehrenamtlichkeit stößt bei den ambitionierten Projekten an ihre Grenzen - zum Beispiel bei den aufwändigen Anträgen zur EU-Projektförderung und obwohl die Partnerschaft in Brüssel inzwischen einen guten Ruf genießt. Jedes Mal ein immenser Kraftakt, so Radde. Aber einer, der sich lohnt. Denn jede Spendenmark wird quasi mehr als versechsfacht, da die EU bei Bewilligung 85 Prozent der Projektkosten übernimmt.
Bereits fünf Projekte hat die Städtepartnerschaft mit EU-Hilfe erfolgreich abgeschlossen. Seit Jahresbeginn läuft das sechste Projekt. Es ist auf drei Jahre angelegt und verfolgt weiter das Konzept der integrierten Armutsbekämpfung. Seit 1997 wurden mit diesem Konzept vor allem alleinerziehende Frauen unterstützt. Für fast 500 Begünstigte wurden Möglichkeiten zur Kleintierhaltung in Form revolvierender Fonds geschaffen. Bei diesem System erhalten Familien Hühner, Schafe oder Schweine quasi als Naturalkredit, der in Form von Tiernachwuchs plus zehn Prozent zurückgezahlt wird, die wiederum weiterverteilt werden, so dass immer mehr Familien von dem wachsenden Tierbestand profitieren können. Das klappt in der Regel, auch wenn es vorkommen kann, dass Begünstigte einfach die an sie verteilten Tiere aufessen, so Radde. Solche Sünder fliegen ohne viel Federlesens aus dem Fonds.
Mit dem neuen 3-Jahres-Projekt, das einen Umfang von 1,4 Millionen Mark hat, wovon fast 1,2 Millionen aus Brüssel fließen, soll die Basisinfrastruktur in den Bereichen Gesundheit, Bildung, sauberes Trinkwasser und der Zugang dazu für die benachteiligte Landbevölkerung ausgebaut werden. Die weitere Verbesserung der Erwerbsmöglichkeiten, die Diversifikation der Landwirtschaft und der Ressourcenschutz sollen ebenfalls vorangetrieben werden. Dass Aufforstung einen ganz direkten Nutzen hat, konnte die Bevölkerung ein Jahr nach dem Hurrikan Mitch 1998 erfahren. Extreme Regenfälle verwandelten viele Hänge in Sturzbäche - die aufgeforsteten blieben verschont. Für die Bevölkerung eine zusätzliche Motivation, bei den Aufforstungsmaßnahmen mitzuziehen, erläutert Büroleiter Tilo Ballien.
Stichwort Motivation: Mindestens einmal pro Jahr fährt eine Brigade aus Berlin nach Nikaragua, um konkret in den Projekten mitzuarbeiten. In den achtziger Jahren war die Unterstützung der sandinistischen Revolution der zentrale Beweggrund für die Brigadisten. Mit der Wahlniederlage der Sandinisten 1990 hat sich die Motivation verändert. »Den Leuten geht es jetzt vor allem darum, einen Einblick in die Lebensverhältnisse der Dritten Welt zu bekommen, die politischen Verhältnisse in Nikaragua sind eher nachgeordnet«, meint Radde. Politische Verhältnisse, die derzeit wieder im Wandel sind. Jahres konnte die Sandinistische Berfrei
Bei den Kommunalwahlen Ende letzten ungsfront FSLN einen klaren Sieg erzielen - auch in San Rafael del Sur stellt die Frente zum ersten Mal seit 1990 wieder den Bürgermeister. Und bei aller Kritik an der Entwicklung der sandinistischen Partei FSLN auf Landesebene, der auf Daniel Ortega zentrierten Politik, dem Ausbooten interner Parteikritiker, lässt Radde keinen Zweifel daran, dass bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im November die Sympathien der FSLN gelten. Denn auf lokaler Ebene klappt die Zusammenarbeit ziemlich reibungslos.


Wer für die Projekte der Städtepartnerschaft spenden will: Konto-Nr: 464805-104, Postbank Berlin. BLZ 100 100 10, Infos: (030) 25883701

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