Marianne von Willemer und Goethe: Dagmar von Gersdorff erzählt die Geschichte einer Liebe
Klaus Bellin
Lesedauer: 6 Min.
Das Tagebuch gibt sich so nüchtern wie stets. »4. August 1814 Wiesbaden«, heißt es nur. Und dann zwei Namen: »Geh. Rat Willemer. Dlle. Jung.« Von der Überraschung, die mit dieser Begegnung im Hotel »Zum Bären« verbunden ist, kein Wort. Goethe hat den Bankier Johann Jakob Willemer wiedergesehen, nun gut, aber dass der Bankier Marianne Jung mitbringen würde, die Pflegetochter, von der man munkelt, sie sei seine Geliebte, hat er nicht gewusst. Er genießt die Bekanntschaft. Dass er entzückt ist, spüren hinterher alle an seiner Liebenswürdigkeit, seinem »offenen Gemüt«.
Marianne, noch keine 30 Jahre alt, ist eine kleine, geschmeidige, zur Rundlichkeit neigende Person, hübsch, aufmerksam und wortgewandt, und Goethe, der in diesen Tagen 65 wird, entgeht natürlich nicht, mit welchem Ernst, welcher Andacht sie an seinen Lippen hängt. Ein paar Tage später sieht man sich wieder, und Willemers »kleine Gefährtin« wird, tief beeindruckt von seiner Erscheinung, sagen, er sei ihr erschienen wie Sonne und Mond. Zum Glück kommt der Bewunderte im nächsten Jahr wieder, und nun wird aus der Bewunderung Liebe, eine Liebe mit unübersehbaren Folgen für die Dichtung.
Goethe ist schon lange tot, und auch Marianne von Willemer ist inzwischen ein altes Mütterchen geworden, als sie dem jungen und verblüfften Herman Grimm gesteht, einige Goethe-Gedichte aus dem »West-östlichen Divan« stammten von ihr. 30 Jahre lang hat sie alles für sich behalten: dass der Wechselgesang der Liebenden eine reale Geschichte beschreibt. Dass sie Suleika und er Hatem war. Dass Goethe Verse von ihr, mit denen sie damals auf sein Werben reagierte, ins »Buch Suleika« integrierte, ohne die Herkunft aufzuklären. Lange schweigt auch Herman Grimm, dann, 1869, inzwischen ist die mütterliche Freundin gestorben, publiziert er in den »Preußischen Jahrbüchern« einen Aufsatz, der den erstaunlichen Anteil offenbart, den Marianne von Willemer an der großen Gedichtschöpfung hat.
Seitdem gibt es ein lebhaftes Interesse an dieser Frau. 1877 erscheinen zum ersten Mal die Briefe, die zwischen Weimar und Frankfurt am Main, dem Wohnsitz der Willemers, gewechselt wurden. Goethe-Forscher wie Hans-J. Weitz setzen alles daran, diese Beziehung (und ihren Niederschlag in der Dichtung) zu dokumentieren, mehrere Autoren (wie der Schriftsteller Bernard von Brentano) versuchen sich an Lebensbildern der anmutigen Freundin. Die vorläufig letzte Biografie, verfasst von Carmen Kahn-Wallerstein, erscheint 1961 in Bern und 1984 noch einmal im Insel-Verlag, aber als Effi Biedrzynski, die große alte Dame unter den Goethe-Experten, 1998 ihr Kalenderbüchlein »Mit Goethe durch das Jahr« Marianne von Willemer widmet, schreibt sie gleich vorn die ernüchternden Sätze: »Wir wissen wenig. Vieles, nahezu alles, bleibt im Dunkel, ist unverbürgt, bleibt ungewiß.«
Das Eingeständnis, vielleicht eine Spur zu dramatisch formuliert, deutet schon an, wie groß, wie unbegrenzt beinahe das Feld für Entdeckungen sein muss. Lange war man sich ja nicht einmal sicher, wer Mariannes Vater war. Sie ist 1784 unehelich als Tochter einer Schauspielerin geboren worden, und da man die 14-jährige Tänzerin später als Demoiselle Jung präsentierte, lag die Vermutung nahe, ihr Vater sei der Linzer Instrumentenbauer Matthias Jung gewesen. So steht es sogar noch in Wilperts »Goethe-Lexikon« von 1998. In Wahrheit hieß sie, wie ein Archivar 1980 in Linz zufällig entdeckte, Marianne van Gangelt. Genaueres, auch über den Vater, einen holländischen Tanzmeister, liest man jetzt zum ersten Mal bei Dagmar von Gersdorff, die - nach ihren Büchern über Goethes Mutter und Lili Schönemann, die Frankfurter Verlobte - nun auch erzählt, wie Johann Jakob Willemer der mittellosen Schauspielerin Jung die Tochter abkauft, sie ins Haus nimmt, unterrichten lässt, sie schließlich Hals über Kopf ehelicht, bevor Goethe 1815 wieder in den Rhein- und Maingegenden weilt.
Marianne von Willemer ist die außergewöhnlichste Frau in Goethes Leben, eine Liebende, die zur Dichterin reift, die ihm sogar auf gleicher Höhe begegnet, seine Hatem-Verse mit ebenbürtigen Strophen beantwortet. Sie ist klug und vielseitig talentiert, und sie blüht in diesen Sommer- und Herbstwochen 1815 regelrecht auf. Auch Goethe, fixiert auf Marianne, die persische Poesie und seinen »Divan«, findet neue Lebenslust und gerät in einen Schaffensrausch, wie er ihn lange nicht erlebt hat. Und dann der Schock, die eiskalte Dusche: Der Geliebte, der selbst den 50. Geburtstag seiner Frau Christiane ohne Gruß und Glückwunsch verstreichen ließ, macht sein Versprechen, im nächsten Jahr wiederzukommen, nicht wahr. Er ist schon auf dem Weg, doch dann kippt die Kutsche um, er macht kehrt und schreibt einen Brief, der das Unglück meldet. Und verstummt danach. Hört nicht Mariannes flehende Bitten, ignoriert ihre Verstörung, ihren Schmerz und auch die verzweifelten Briefe Willemers, der sehen muss, wie sie allen Frohsinn verliert, zu torkeln beginnt und in Depressionen stürzt, ein Fall für den Arzt.
Dagmar von Gersdorff spricht vom »unfassbaren Schweigen« Goethes. Mag sein, dass es für ihn keine andere Rettung gab, denn er liebte die Frau des Freundes. Rätselhaft ist sein Verhalten trotzdem, eine unglaubliche Brüskierung Mariannes. Dieser Liebenden, die sich weit vorgewagt hat, die ungeschützt ihre Gefühle preisgab, gehört denn auch die stille Bewunderung der Autorin. Sie schreibt mit Hingabe, so einfühlsam wie souverän. Sie kann sich dabei auf manchen Fund stützen, manches Papier aus privaten Archiven, das bislang unbekannt blieb. Und sie schafft es, diese Geschichte, in der es kein Wiedersehen gibt, aus der später aber wenigstens noch eine Geschichte anhaltender Freundschaft und liebevoller Nähe wird, so fesselnd und neu zu erzählen, dass man sie liest, als habe man vorher noch nicht von ihr gehört.
Siegfried Unseld, der Suhrkamp- und Insel-Verleger, hätte seine Freude an diesem Buch gehabt. Er hat ja zuletzt mehrmals über Marianne, Goethe und den »Westöstlichen Divan« geschrieben. Er scheute nicht das große Wort und sprach von einer »epochalen Begegnung«, mit Blick auf Mariannes poetische Kraft auch vom »Wunder ihrer Existenz«. Die Passagen aus seinem Buch »Goethe und der Gingko« stehen jetzt noch einmal in einem druckfrischen Bändchen der Insel- Bücherei, das Hans-Joachim Simm aus Unselds Goethe-Publikationen kompiliert hat. Da sieht man den Dichter im Umgang mit Verlegern und seinen Mitarbeitern oder als Verfasser eines erotischen Gedichts, das in vielen Ausgaben weggelassen wurde. Auch Unseld hadert natürlich mit Goethe. Warum diese unbegreifliche Flucht vor Marianne? Und warum hat er den Anteil, den sie an seinem »Divan« hatte, verschwiegen?
Wir werden es nicht erfahren, und wer aufs Feld der Spekulation nicht geraten will, wird sich mit den Fragezeichen abfinden müssen.
Dagmar von Gersdorff: Marianne von Willemer und Goethe. Geschichte einer Liebe. 302 Seiten, gebunden, 19,90 EUR.
Siegfried Unseld: »Und jeder Schritt ist Unermeßlichkeit«. Gedanken über Goethe. Hg. von Hans-Joachim Simm. 123 Seiten, gebunden, 12,80 EUR (beide Insel Verlag).
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