Gefeiert wird später...

Zwischen Hoffnung und Skepsis: Erben von Land aus der Bodenreform in Mecklenburg-Vorpommern

  • Christina Matte
  • Lesedauer: 10 Min.
Nur Tage nach dem Strasbourger Urteil, das die entschädigungslose Enteignung zigtausender Erben von Bodenreformland als menschenrechtswidrig einstufte, begaben sich Tetzlaffs, Tessins und Brückners nach Dummerstorf zu einer Versammlung. Ihr Verein hatte eingeladen, Fragen sollten beantwortet werden, und davon hatten sie jede Menge. »Was wir da sahen, ist kaum zu beschreiben«, wundert sich Horst Tetzlaff noch immer.
Tetzlaffs sind wie Tessins und Brückners Mitglieder in dem Verein, der sich 1992 auch in Mecklenburg-Vorpommern gründete, um die Bodenreform zu verteidigen. Zwei Jahre zuvor schien das noch nicht nötig. Die letzte DDR-Regierung unter Hans Modrow hatte verfügt: Bodenreformland ist Volleigentum, kann veräußert werden und bleibt vererbbar. So war es 1990 in den Einigungsvertrag eingegangen. Dann jedoch hatte der Bundestag eigens ein Gesetz geschaffen, um die Bodenreform doch noch »abzuwickeln«: Danach durfte sein Land nur behalten, wer - um es einfach auszudrücken - in der Landwirtschaft arbeitete. Auf Grundlage dieses Gesetzes wurden 70000 Ostdeutsche gezwungen, ihr privates Eigentum an die Länder abzutreten. Wenige hatten den Mut, sich zu wehren.
An jenem Samstag in Dummerstorf nun - das Bild hat sich Tetzlaff eingebrannt - waren nicht nur die 100 Vereinsmitglieder aus allen Richtungen angereist, nein: 1000 Menschen, auch »Alteigentümer«, die Neuigkeiten hören wollten, belagerten die Dummerstorfer Mühle: »Wir wären fast nicht reingekommen und hätten wahrscheinlich stehen müssen, wenn man für uns Vereinsmitglieder nicht Plätze reserviert hätte.« Als Tetzlaffs, Tessins und Brückners schließlich nach einem Fragemarathon den stickigen Saal wieder verließen, warteten immer noch 500 Leute - die Veranstaltung musste gestaffelt werden. Tetzlaff: »Auf dem Land ist die Hölle los. Man weiß nicht, wie es weiter geht.«
Jeder hat seine eigene Hölle. Das macht die Dinge kompliziert. Die Hölle von Horst und Margitta Tetzlaff wirkt auf den ersten Blick ganz friedlich: Sie leben in einem neu gebauten hübschen Häuschen in Graal Müritz, Wald und Wasser in der Nähe, die sich anbieten für lange, einsame Spaziergänge. Freilich wird ihnen die Miete zu teuer, so dass sie sich nach einer Wohnung, wahrscheinlich in Rostock, umsehen werden. Es gibt Schlimmeres, und Margitta Tetzlaff kann sich damit arrangieren. Ihr Mann aber, glaubt sie, werde seine Strandspaziergänge vermissen, obwohl er sie kaum noch richtig genieße...
Horst Tetzlaffs Hölle liegt in einem Fach der schweren Schrankwand im Wohnzimmer. Sie steckt in mehreren Aktenordnern: Grundbuchauszüge, Erbscheine, amtliche Schreiben, Schriftwechsel mit Notaren und Rechtsanwälten. Das Schreiben, mit dem alles begann, erreichte ihn 1998. Absender war die Landgesellschaft Mecklenburg-Vorpommern in Leezen. Sie suchte Erben von Anna Obst, welche als Eigentümerin mehrerer kleiner Flurstücke, insgesamt ca. drei Hektar, im Grundbuch eingetragen war, doch nicht ermittelt werden konnte. Sollte sie inzwischen verstorben und Horst Tetzlaff Erbe sein, wäre er auch der mögliche Eigentümer, so er denn Erbschein bzw. Testament beibringen könnte...
»Aha«, hatte sich Horst Tetzlaff gedacht, »jetzt bekommst du also Land!« Denn Anna Obst, die 45 als Neusiedlerin ein Stück Bodenreformland bei Wismar erhalten hatte, war seine Stiefmutter geworden, als sein Vater sie heiratete. Bis 1952 hatten sie auf dem Hof gelebt, mit einer Kuh, ein paar Schweinen, ein paar Hühnern und so viel Rüben, dass er nach der Schule zum Verziehen mit auf den Acker musste, was ihm allerdings nicht schwer fiel. 1952 waren die Eltern nach Wismar gezogen, wo sie sich zur Ruhe setzten. Während er auf der Werft den Beruf eines Stahlschiffbauers erlernte, anschließend ein Studium für Biologie und Landwirtschaft absolvierte, ging das Land in die LPG, das interessierte ihn nicht weiter: »Eigentum bedeutete nichts, es hätte uns auch nicht viel gebracht. Ich habe mich nicht darum gekümmert, ich konnte mich kaum noch daran erinnern.«
Was sich mit dem Schreiben von 1998 änderte. »Zu DDR-Zeiten«, sagt Horst Tetzlaff, »haben wir ohne Eigentum glücklich und zufrieden gelebt. Heute ist Eigentum wieder wichtig.« Er ließ sich ins Grundbuch eintragen, vereinbarte mit der LPG, dass sie ihm die Pacht für das Stück, das sie nutzte, überwies, inspizierte die restlichen Fluren, vor allem eine war wertvoll geworden, 1400 Quadratmeter voll erschlossenes Bauland mit Seeblick - glücklich war er seither nicht mehr. Denn schon in dem Schreiben der »Landklaugesellschaft«, wie er die Behörde nun nennt, war seine Freude gebremst worden. Ob das Land ihm wirklich gehöre, hinge letztlich davon ab, ob er »zuteilungsfähig« sei, und dafür gäbe es bekanntlich höchstrichterlich festgelegte Kriterien. Nein, Horst Tetzlaff hatte nicht bis zum 15. März 1990 einer LPG angehört. Er war nie LPG-Mitglied gewesen und hatte auch nicht vor, eins zu werden. Denn er war Lehrer, und zwar Lehrer für Biologie und Landwirtschaft - sollte das für die »Zuteilung« nicht genügen? Tat es nicht, er sah es nicht ein: War er nun Erbe oder nicht? Man räumte ihm die Möglichkeit ein, sein Eigentum zurückzukaufen. »Eigentum zurückkaufen, so ein Blödsinn«, erregt er sich. Er habe das mal testen wollen: Für 2732 Quadratmeter wertloses Land hätte er exakt 51320 Mark zahlen sollen! Dabei sei der Wert seiner ganzen drei Hektar (30000 Quadratmeter) nur mit 100000 Mark angesetzt gewesen. »Einschließlich des Baulandes, das natürlich allein schon einen viel höheren Wert hat. Die wollten gar nicht, dass wir kaufen, die wollten uns abschrecken. Das war Betrug von der Landgesellschaft.« Natürlich kaufte Tetzlaff nicht. Sondern versuchte mit »vielen Tricks«, den geforderten Verzicht auf sein Land hinauszuzögern. Bis man ihm ein Ultimatum stellte: Entweder, er ginge zum Notar, um den Verzicht zu unterschreiben, oder das Land würde eingeklagt, »und diesen Prozess, sehr geehrter Herr Tetzlaff, den können sie nur verlieren«. Darauf ließ er es nicht ankommen. Immerhin hat er auf einem Vermerk in der Urkunde bestanden: Wenn die Gesetzeslage sich ändert, ist der alte Eigentumszustand wiederherzustellen...
Klar, drei Tage nach dem Strasbourger Urteil schrieb er nach Leezen und erhob Anspruch. Doch er rechnet damit, dass Widerspruch gegen das Urteil eingelegt wird, »das kann sich noch ewig hinziehen«. Und sollte die Große Kammer in Strasbourg das Urteil bestätigen, weiß er ja jetzt, er lebt unter Gaunern. »Die haben uns so arrogant behandelt, als gehöre das Land ihnen. Ich habe Leute weinen sehen. Und irgendwas fällt denen wieder ein, um uns übern Tisch zu ziehen.«
Eigentlich kann Horst Tetzlaff das Wort »Bodenreform« nicht mehr hören. Margitta hält ihm aber entgegen: »Du bist nicht gescheit, es wird nichts verschenkt! Die Kinder könnten irgendwann bauen, und wir brauchten unsere Rente nicht mehr so pingelig einzuteilen.« Doch Horst Tetzlaff sehnt sich nach Frieden. Der wohnt schon lange nicht mehr in dem Haus, das von weitem so friedlich ausschaut.
Jeder hat seine eigene Hölle. Schon, weil jeder Fall anders liegt. Auch das macht die Dinge kompliziert, zum Beispiel für Edeltraud Tessin. Sie und ihr Mann Gerhard wohnen bei Rostock im Ostseebad Nienhagen. Ein erlesenes Stück Deutschland. Dorthin hatte es Edeltrauds Mutter Selma aus Westpreußen verschlagen. Dort waren ihr im Zuge der Bodenreform, während der Ehemann Paul noch im Krieg war, fünf Hektar Land zugeteilt worden. Sie entrichtete dafür 1419 Reichsmark, am 11. Juli 1946 erfolgte der Eintrag ins Grundbuch. Auch Edeltraud und ihre vier Geschwister halfen nach der Schule auf dem Feld, später traten die Eltern der LPG bei, die Geschwister zogen weg, Edeltraud wurde Alleinerbin. Und ein paar Jahre, bis 95, galt sie auch als Eigentümerin der fünf Hektar direkt an der Ostsee. Die verpachtete sie ans Gut Rethwisch - für 96 und 97 musste sie die Pacht schon zurückzahlen. Nämlich an jene Landgesellschaft, die auch sie enteignete.
Auch sie erhielt ein Schreiben vom Fiskus. Zwar hatte ihr Mann Gerhard lange im Kuhstall der LPG gearbeitet, zwar war ihr Sohn in der Landwirtschaft - doch sie war Verkäuferin im Konsum. Demnach also nicht »zuteilungsfähig«. Sie schrieb, sie sei nicht einverstanden, dass man ihr das Land wegnimmt, unterschrieb nicht wie Tetzlaff, sondern klagte. 2520 Mark kostete sie der Rechtsanwalt. Und da sie den Prozess verlor, musste sie die gleiche Summe auch für den Anwalt der Gegenseite berappen. Dazu kamen Gerichtskosten von 1464 Mark und Pacht von 2206 Mark - das machte 8710 Mark... Auch die möchte sie jetzt zurückhaben.
Die Sache hat nur einen Haken, der Tessins beunruhigt: Wer geklagt hat, muss sein Verfahren schnellstens wieder aufnehmen lassen. Das jedoch ist nur dann möglich, wenn seit der Rechtskraft des letzten Urteils nicht mehr als fünf Jahre verstrichen sind. Ihr Urteil ist aber acht Jahre alt, und Edeltraud Tessin fragt sich: »Werden wir jetzt doppelt bestraft, weil wir uns gewehrt haben?«
Zum Glück, erzählt sie und lacht schon wieder, weil sie es in der Hölle nicht aushält, hätten sie 84 das Haus, eine frühere Schnitterkate, vom übrigen Besitz abgetrennt. Das Schlimmste sei ihnen erspart geblieben: »Hier hat sich Schreckliches abgespielt. Menschen wurden aus ihren Häusern vertrieben, und wer sein Land, von dem er glaubte, dass es ihm rechtmäßig gehöre, verkauft hatte, bevor die in Leezen es sich einfach einverleibten, musste alles zurückzahlen. Manche hatten das Geld nicht mehr, hatten sich ein Haus gebaut...«
Drei Milliarden D-Mark habe Mecklenburg-Vorpommern kassiert, indem es Land verkaufte, das ihm nicht gehörte. Tessins fünf Hektar an der Ostsee seien aber noch nicht verkauft. Wenn sie die denn wiederbekämen, wollen auch sie sie nicht veräußern: Es könnte ja mal Bauland werden. »Land gibt man heutzutage nicht her«, sagt Edeltraud Tessin resolut. »Eigentum ist Eigentum, und das wird immer wertvoller. Jetzt wird gekämpft, gefeiert wird später.«
Jeder hat seine eigene Hölle. Klaus Brückner schmort Tag und Nacht darin, an Schlafen ist nicht mehr zu denken. Er ist fertig. Er raucht zu viel. Ein beiläufig-freundliches Wort kann ihn aus der Fassung bringen.
Auch Brückner wohnt in Nienhagen. 1958 heiratete er dort Hannelore. Deren Großonkel Rudolf, vor dem Krieg Kutscher, hatte von der Bodenreform fünf Hektar Ackerland bekommen. Klaus und Hanne wohnten bei ihm, und kam Klaus abends von der Werft, half er Rudolf auf dem Acker. Den erbte er 1978. 1990 ließ er sich ins Grundbuch eintragen. »Jetzt haben wir unser Land wieder!«, habe er sich damals gefreut. Doch dann war auch er nicht »zuteilungsfähig«. Obwohl er seit 18 Jahren in der Melioration tätig war: »Wir arbeiteten für die LPG, als zwischenbetriebliche Einrichtung. Das wurde aber nicht anerkannt, die wollten uns das Land abjagen.«
Er klagte wie Edeltraud Tessin. Seine Augen werden feucht: »Ich wusste gar nicht, wie ein Gericht aussieht. Ich habe mich verrückt gemacht und dann ja auch nicht Recht gekriegt.« Auch Brückner musste die Kosten tragen. Jetzt sitzt er in der Zwickmühle: Ficht er das Verfahren an und verliert, muss er noch mal löhnen. Das kann er nicht, er hat kein Geld mehr. Lässt er das Verfahren ruhen, das er ja auch gewinnen könnte, setzt er vielleicht sein Land aufs Spiel, das Sicherheit fürs Alter wäre. Sicher, seine Papiere hat er schon zur Anwältin geschickt. Doch er weiß nicht: War das falsch?
Er greift nach einer Zigarette. Vor dem Wohnzimmerfenster das Nachbarhaus. Es steht leer, die Familie war überschuldet. Brückners Augen schwimmen schon wieder: Auch er muss von seinen Schulden runter. Schon zu DDR-Zeiten hat er einen Kredit aufgenommen, um sein Haus, eine frühere Büdnerei, auszubauen. Vor der Wende ein Prozent Zinsen, jetzt 9,8 - ein Unterschied! Und jetzt regne es auch noch durchs Dach, das dringend gedeckt werden müsse. Bekäme er sein Land zurück, wäre er seine Sorgen los. Soll er nun? Oder lieber nicht?
Brückner klammert sich an einen Strohhalm: Würde man eine Regelung schaffen, die für alle gleichermaßen gilt, brauchte er keine Entscheidung zu treffen. »Das wäre doch vernünftig«, sagt er, »dann müsste nicht jeder allein kämpfen.« Er wischt sich die Augen trocken. Nein, er glaubt nicht wirklich daran. »Dann müssten die ja alles rausrücken, was sie uns weggenommen haben. Die versuchen noch, Dumme zu finden, die sie übers Ohr hauen können.«

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