Werbung

Dieser Text ist Teil des nd-Archivs seit 1946.

Um die Inhalte, die in den Jahrgängen bis 2001 als gedrucktes Papier vorliegen, in eine digitalisierte Fassung zu übertragen, wurde eine automatische Text- und Layouterkennung eingesetzt. Je älter das Original, umso höher die Wahrscheinlichkeit, dass der automatische Erkennvorgang bei einzelnen Wörtern oder Absätzen auf Probleme stößt.

Es kann also vereinzelt vorkommen, dass Texte fehlerhaft sind.

  • Kultur
  • SUN YAOTING über sein Leben am chinesischen Hof

Glanz und Elend der Eunuchen

  • ANNE-KATREIN BECKER
  • Lesedauer: 3 Min.

In einer der ärmsten nordchinesischen Gegenden, in Jinghai, wurde Sun Yaoting im Hungerjahr 1902 als Sohn eines Kulis geboren. Ein blinder Alter prophezeite, dem Kind werde ein bitterer Lebensweg ohne Nachkommen beschieden sein. Einziger Ausweg sei ein Glücksname mit dem Zeichen „Jin“ So wurde der Neugeborene Liujin „bleibendes Gold“ genannt.

Aus Jinghai, so erzählten die Alten im Dorf, kamen bislang nur zwei chinesische Berühmtheiten: der Anführer des Boxeraufstandes Cao Futian und ein Obereunuch am kaiserlichen Hofe, der in Samt und Seide gehüllt, von Schauspielern und Sängern eskortiert, im Jahre 1909 seiner Heimat einen Besuch abstattete, bewundert von arm und reich. Dem kleinen, immer hungrigen Sun Liujin kam zu jener Zeit der Gedanke, daß man sich als Eunuch gewiß keine Sorgen mehr um die tägliche Schale Reis zu machen brauche. Das erstrebenswerte Ziel war fortan, Eunuch am Hofe zu werden. Durch die äußerst qualvolle, lebensgefährliche Kastration im Alter von zehn Jahren, die sein Vater mit einem einfachen Messer ausführte, hofften er und seine Eltern, den elenden Lebensumständen entfliehen zu können.

Zu diesem Zeitpunkt war Chinas bürgerliche Revolution

Sun Yaotmg/Ling Haicheng.- Der letzte Eunuch. Das Leben Sun Yaotings, letzter Eunuch des Kaisers Puyi, erzählt von ihm selbst. Aus dem Chinesischen von Uwe Frankenhauser Gustav Kiepenheuer Verlag Leipzig, 692 S., geb., 49,80 DM.

schon ein Jahr alt und der Kaiser eigentlich nicht mehr an der Macht, doch bis in das kleine nordchinesis^he Dorf hatte sich das noch nicht herumgesprochen. Sollten die Qualen des Jungen denn ganz umsonst gewesen sein? Wurden Eunuchen nicht mehr gebraucht? So konsequent war allerdings diese Revolution auch wieder nicht, denn der Kaiser und seine Schranzen blieben weiter im Pekinger Palast, so daß nach wie vor „Bedarr an Eunuchen bestand, da „normale“ Männer die Palastdamen nicht bedienen durften. So schaffte Liujin es sogar, in Pekings Verbotene Stadt zu gelangen und Eunuch beim letzten Kaiser zu werden. Hier allerdings nützt ihm sein „Gold“-Name gar nichts, denn jegliches Metall im Namen ist im Palast verboten, so wird er fortan Sun Yaoting, „Leuchte der Familie“, genannt.

Alle Wirren der chinesischen Geschichte dieses Jahrhunderts hat Sun Yaoting viele Jahre lang an den Schalthebeln der Macht miterlebt. Seine Be-

ziehungen reichten von ganz unten, der großen, ziemlich gut organisierten Pekinger Bettlerkaste, bis zum göttlichen Kaiser. Intimste Kenntnisse über Puyi, den letzten und impotenten Kaiser, verschafften ihm eine Vertrauensstellung besonderer Art. Trotzdem mußte er ständig auf der Hut sein, denn der Kaiser war jähzornig und unberechenbar So fühlte er sich ständig an das Sprichwort erinnert: „Einen Fürsten begleiten, ist nicht anders, als einem Tiger Gesellschaft zu leisten.“ Als nach dem endgültigen Sturz des Kaisers auch kein Palasteunuch mehr gebraucht wurde, zog sich Sun Yaoting ins Kloster zurück, wo er mit Ausnahme der Zeit der „Kulturrevolution“ bis zu seinem Tode 1991 als daoistischer Mönch lebte.

Kannte der Leser bislang das Leben des letzten chinesischen Kaisers aus Roman und Film, so erfährt er hier Einmaliges aus der Sicht der Eunuchen, die zwar in China verachtet wurden, aber dennoch im Laufe der Jahrhunderte großen Einfluß auf das Machtgefüge ausübten. Ko-Autor des faszinierenden und mit einem hervorragenden Erläuterungsteil ausgestatteten Buches ist der Freund des letzten Eunuchen, der 1945 geborene Ling Haicheng, der auch durch eigene Erzählungen in China bekannt wurde.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.