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- Die Weinreb-Liste: Kollaboration und Widerstand
Spiel mit dem Teufel
Steven Spielbergs Film „Schindlers Liste sahen Millionen Menschen. Von Friedrich Weinreb spricht niemand, obwohl er als Jude das Unglaubliche fertigbrachte, daß zweimal ein Deportationszug mit holländischen Juden leer nach Auschwitz fuhr. Friedrich Weinreb, Ostjude aus Lemberg, täuschte die Nazis in großem Stil, indem er während des Zweiten Weltkrieges die nationalsozialistische Besatzermacht in Holland, namentlich die Wehrmacht und den Sicherheitsdienst (SD), geschickt gegeneinander ausspielte.
Das ganze begann mit einem Zufall. Ein Freund Friedrich Weinrebs hatte sich in Den Haag auf dem Arbeitsamt eingefunden, weil er einen Aufruf zum sog. „Arbeitseinsatz im Osten“, also den Deportationsbefehl, erhalten hatte. Er wollte Aufschub erlangen und wurde abgewiesen, aber er erlebte, wie ein anderer Jude mit demselben Anliegen Erfolg hatte. Dieser Mann zeigte einige Urkunden vor, aus denen hervorging, daß er im neutralen Ausland Devisen für Deutschland zur Verfügung stellte, und daß er aus diesem Grunde wahrscheinlich die Erlaubnis zur Emigration erhalten würde. Der zuständige Beamte sah die Dokumente kurz an, nickte „Jawohl, jawohl“ und meinte, daß in diesem Fall selbstverständlich Aufschub gewährt würde, damit von den Deutschen zunächst das Emigrationsersu-
chen geklärt werden könne. Der Mann wurde für ein halbes Jahr von der Deportation zurückgestellt, mit Aussicht auf Verlängerung.
Als Prof. Weinreb diese Geschichte hörte, beschloß er, mit dem Bezirksarbeitsamt zu telefonieren. „Improvisierend“, wie er in seinen Memoiren schreibt, „das Gespräch würde sich schon entwickeln.“ Das Gespräch entwickelte sich in der Tat. Weinrebs resolutes Auftreten machte Eindruck. Er verlangte sogleich den Chef zu sprechen, der für die Verschickung von Juden zuständig sei, und stellte sich diesem mit größter Selbstverständlichkeit als Dr. Weinreb, Fachmann für jüdische Emigration, vor. Seine profunden Kenntnisse in wirtschaftlichen Dingen kamen ihm zugute. „Der Mann war beeindruckt“, schreibt Weinreb. „Ich erzählte ihm, daß ver-
schiedene meiner Fälle, die ich bei der Ein- und Ausreisestelle verträte, in Arbeitslager für Juden verschickt werden sollten, daß jedoch die Wehrmacht dies nicht wünsche, da diese Personen gegen Devisen ins Ausland emigrieren sollten.“ Weinreb hatte Erfolg, die von ihm genannten Personen wurden gesperrt.
Bald bekam der Jüdische Rat Wind von der Sache, dem die Deutschen die Aufgabe zugewiesen hatten, die Deportationstermine einzeln festzulegen. Der Rat erwähnte die Angelegenheit einmal gegenüber dem Sicherheitsdienst. Eine Wehrmachtsangelegenheit? Der SD gab nicht gern seine Desinformiertheit zu, der zuständige SDler meinte nur: „Weinreb? Devisenemigration? 0h„ die ist prima. Wir brauchen Devisen, bestimmt wird das klappen.“ Langsam entstand eine immer komple-
xere Konstruktion. Natürlich mußte ein General in Berlin für das ganze zuständig sein. General Hans Joachim von Schumann. Ein Papiergeneral, aber er funktionierte. Weinreb fälschte Papiere und fingierte einen Brief des Generals. Der SD ließ ihn in Ruhe.
Als 1942 die Deportationen begannen, wurden die Juden nicht mehr aufgerufen, sondern einfach abgeholt. Weinreb hatte zu dieser Zeit 30 Menschen auf seiner Liste. Die Deportierten kamen zunächst
ins Auffanglager Westerbork. Von dort aus erreichten Weinreb Telegramme, Hilferufe. Und Weinreb telegraphierte, bestätigte Sperrungen - und hatte Erfolg. Die von ihm Genannten wurden nicht weiterverschickt nach Auschwitz. Niemand wußte damals, was Auschwitz bedeutete, aber man fühlte, daß es sicherer war, zu bleiben.
Weinreb riet den Juden, sich nicht auf seine „Sperrungen“ zu verlassen, sondern so schnell wie möglich unterzu-
tauchen, half bei der Beschaffung von Verstecken, Ausweisen, Geld.
Irgendwann wurde auch dem SD klar, daß es General von Schumann nicht gab. Weinreb war jedoch so glaubwürdig, daß man annahm, er sei auf eine Verschwörerbande hereingefallen, die das Reich untergraben und sich bereichern wolle. Der SD schlug Weinreh vor, die Fronten zu wechseln, und er ging darauf ein. Es gab also weiterhin Einschreibungen auf der Weinreb-
Liste, jetzt legal, mit Wissen des SD. Der Auftrag des SD an ihn lautete* von Schumann und andere Verdächtige anzulokken und auszuliefern. Weinreb ließ tatsächlich - und dies mit Wissen des SD - 1 500 Personen sperren. In zwei Fällen mußten deshalb Deportationszüge leer nach Auschwitz fahren. Daß dieses Spiel mit dem Teufel nicht lange gutgehen konnte, war ihm klar. 1944 wurde er gewarnt und konnte im letzten Moment untertauchen.
Weinreb rettete mehreren hundert Menschen das Leben. Seine Kriegsmemoiren erschienen in Holland unter dem Titel „Kollaboration und Widerstand“ (deutsche Ausgabe: „Die langen Schatten des Krieges“), ausgezeichnet mit dem Literaturpreis der Stadt Amsterdam. Sie erregten ein solches Aufsehen, daß Weinreb es vorzog, außer Landes zu gehen. Er starb 78jährig 1988 in der Schweiz.
Friedrich Weinreb war nach dem Kriege als Wirtschaftswissenschaftler und Fachmann für mathematische Statistik im Auftrag der UNO und des Internationalen Arbeitsamtes tätig. Sein Hauptinteresse galt jedoch dem religiösen Judentum. Erstmals ungekürzt erscheint sein Hauptwerk „Schöpfung im Wort“ auf deutsch im Thauros Verlag 1994. Es zeigt auf 1 000 Seiten die Struktur der Bibel in jüdischer Überlieferung und gibt etwas vom Geheimnis preis, woher Weinreb die Kraft zum Überleben nahm.
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