Berlin, Hauptstadt der DDR. Die Republik begeht ihren Ehrentag, den neunzehnten. So und nicht anders muss ein Roman beginnen, mit einer Eingangsszene, die schräger kaum sein könnte: Die Massen stehen Spalier, bestaunen vorbeifahrende Panzer und Raketenwerfer - bis auf Oma Otti. Just an diesem Tag zieht es die Alte zum Friedhof. Mit Gießkanne, Harke und Enkel bahnt sie sich den Weg durch die Menge. Die Toten sind ihr wichtiger als der Kampf um Frieden und Sozialismus. Verständlich, schließlich hat Oma Otti bereits fünf Ehemänner unter die Erde gebracht, und dem sechsten geht es nicht gerade gut: Opa Rudi liegt krank danieder, derweil seine Gattin schon mit dem nächsten anbändelt: Karl, ein alter Spartakuskämpfer. Der hält auch nicht viel vom Genossen Ulbricht. Der »Zickenbart« sei kein echter Kommunist.
Karl macht, dass Oma Otti sich verstanden fühlt. Vor allem in existenziellen Fragen wie dem Scheintod. Ein Gebiet, auf dem die vitale Dame geradezu Expertin ist. Bis zum eigenen Ableben aber ist noch Zeit, und auch der Herbst hat schöne Tage. Selbst im Jahr '68, als im Westen die Studentenrevolte losbrach und in Prag der Frühling bis in den August gegangen war.
Das Epizentrum jener Ereignisse aber lag am Boxhagener Platz! Eines Tages wird dort der alte Fisch-Winkler tot in seinem Laden aufgefunden, erschlagen. Der Ich-Erzähler und Enkel von Oma Otti nimmt die Ermittlungen auf. War es der einbeinige Harry Kupferschmidt? Oder Anton, der Neigentrinker? Verdächtig ist jeder, jedenfalls von den Erwachsenen. Immerhin war Fisch-Winkler ein alter Nazi, der am Ende seiner Tage sogar der Großmutter nachgestellt hat. Und überhaupt, wer zur Hölle ist die »Kommune 25«?
Jesus sagt: »Lass die Toten ihre Toten begraben!« (Lk. 9, 59) Der Schriftsteller Torsten Schulz, 44, unternimmt das genaue Gegenteil: eine tote Republik wird exhumiert und feiert fröhliche Urständ. Damit ist Schulz nicht der erste, vielleicht aber der beste. Mit »Boxhagener Platz« ist dem früheren Sachbuchautor (»Der Boxermacher«) ein grandioses Romandebüt gelungen. Seite für Seite entsteht ein Mikrokosmos, der schillernd komisch ist und zugleich von bestechender Authentizität.
Um ein solches Werk zu schreiben, braucht es Erinnerung - Erfahrung, woran es hier zu Lande den meisten Debütanten mangelt. Die Gegenwart wird reflektiert, Gedanken werden in Stimmungen und Metaphern umgesetzt, aber allzu selten in Handlung. Anders Torsten Schulz, der im Hauptberuf Professor für Praktische Dramaturgie an der Filmhochschule Babelsberg ist und die Drehbücher für mehrere preisgekrönte Spielfilme geliefert hat (u. a. »Raus aus der Haut«, »Im Namen der Unschuld«). Er erzählt, wo andere lediglich beschreiben. Bildhaft: Etwa wenn der Ich-Erzähler über die Liebe seiner Mutter spricht: »Sie streichelte mein Gesicht und nahm sich, wie mir schien, ein bisschen von meinem Lächeln.«
Unglücklich mit einem ABV verheiratet, einem Wichtigtuer, der sich in einem fort der Kripo anbiedert, sucht die Mutter Trost bei anderen Männern und Verständnis bei Oma Otti. Die aber hat andere Sorgen. Womöglich ist gar einer ihrer verstorbenen Männer scheintot begraben worden? So was soll ja vorkommen. Die Särge der Zukunft würden hoffentlich mit Überwachungskameras ausgestattet. Besser noch, die Särge würden luftdicht verschlossen, »uff den Gräbern oben druff stehen, sagen wa: wenigstens 'n paar Wochen lang«.
Mit einem angenehm melancholischen, fast traurigen Humor berichtet Schulz von einer Zeit, als die DDR beinahe schon mehr Vergangenheit als Zukunft hatte, das öffentliche Leben nicht selten trist und kaserniert war. In den Nischen aber tobte mitunter das pralle Leben.
Torsten Schulz: Boxhagener Platz. Roman. Ullstein Verlag.
192 Seiten, gebunden, 18 EUR.