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  • Politik
  • „Der Stiefel und sein Socken“ von Herbert Achternbusch im Freien Schauspiel

Kein Stück um Menschen aus Fleisch und Blut

  • Lesedauer: 3 Min.

Foto: Marcus Liaberenz

Fanny und Herbert'haben sich an irgendeinem Ende der Welt verschlossen. Nirgends, also dort, gibt es eine gefängnisähnliche Behausung, einen Bau, vor dessen Öffnungen nach draußen sie Fenster klappen können, wenn es gewittert und in dessen Hof sie sitzen können, wenn laut Tagesordnung die Sonne scheint oder ein Schluck aus der Bierbuddel vorgesehen ist. Wo und was der Bau ist, das spielt keine Rolle, denn alles was nicht passiert, wenn etwas nicht passiert, passiert in ihrer Phantasie. Die Zeit ist stehengeblieben dort und mit ihr die Welt und mit ihr die Leute und mit ihnen die Natur.

Fanny - wunderbar grotesk, tragisch, traurig, glücklich, wahnsinnig, klug gespielt von Armin Dillenberger-, die Frau zwischen Dorfpomeranze und intellektuellem Überflieger, zwischen Gummistiefel-Oma und Prinzessin, übt sich im Nichtstun durch andauerndes Farnhacken oder im allmorgendlichen Ritual festzustellen, daß ein imaginäres Huhn nicht in der Lage ist, reale Eier zu legen. In ihrem Lebensgefährten Herbert hat sie den überzeugten, halbherzig zynischen Nichtstukumpan gefunden, den genialen Dichter, der nach einem einzigen Gedicht befunden hat, daß es eine mittelmäßige Welt niemals zulassen würde, ihre Mittelmäßigkeit zu überschreiten. Deshalb hörte er auf, weiterhin zu dienten.

Das Paar ist sich „Der Stiefel und sein Socken“, ein Theaterstück in fünf Bildern von Herbert Achternbusch, das in Berliner Erstaufführung am Freien Schauspiel zu sehen ist. Aufs Glatteis geführt von der Stückstrategie Achternbuschs, den Regieeinfällen Armin Dillenbergers und dem Bühnenbild glaubt sich der Zuschauer zunächst einer geglückten Version des Beckettschen „Endspiels“ ausgesetzt. Und das würde Autor und Regisseur durchaus zur Ehre gereichen - nur geben die sich damit keineswegs zufrieden, ist ihnen die Welt noch weitaus irrer geworden, als es Beckett sich hätte jemals träumen lassen.

Die Scheinwelt mit ihren Zäunen aus Zeichen, Symbolen und Fiktionen, in der Fanny und Herbert zugleich gefangen sitzen und sich beschützt fühlen, wird plötzlich ganz real. Das Simulierte übernimmt die Macht, die Zeichen stehen auf und erklären den Helden den Krieg, wie es früher nur ganz reale, eiserne Mordwerkzeuge konnten. Als Fanny und Herbert sich eines Tages entscheiden, das imaginäre Huhn zu schlachten, trifft das Beil Fanny - das einzig Wirkliche neben Herbert, denkt man mitleidsvoll. Eine mehrfache Tragik setzt ein. Fanny verliert ihr geschütztes Dasein im Bau, Herbert die Gefährtin und seinen

liebenswerten Zynismus, die Zuschauer die Illusion, sie hätten ein Stück um Menschen aus Fleisch und Blut gesehen.

Aus Fannys Beilwunde fließen nur Blutzeichen - eine rote Plastikstrippe -, sie selbst ist nicht lebendig, ist nur sichtbare Hülle für eine Unmenge von Fiktionen, die sich eine Gestalt mit Namen Fanny gaben. Ihr Leben ist ewig, sie kann nicht sterben, so wie ein Buch nicht sterben kann. Ebenso ergeht es Herbert, als ihm die unendlich alte Teekanne auf den Kopf fällt. Tod heißt für beide, sich einen neuen Stil geben, einen anderen Inhalt, das Buch, den Text, der ihr Leben war oder ist, neuoder weiterschreiben. Ihre Gestalt bleibt die gleiche und endlos wird passieren, was nicht passiert.

Die neue Ordnung ihrer Fiktionen ist romantisch, und so endet das herrliche Stück in einem wilden Liebesreigen der beiden Buchstaben Fanny und Herbert. Ändern wird das nichts. Das Leben bleibt eine Illusion, aber man sollte sich die beste der möglichen Illusionen aussuchen, denn nicht zu leben, heißt ja nicht, keinen Spaß haben zu dürfen. MARIO STUMPFE

Donnerstags bis sonntags, 20.30 Uhr, im Freien Schauspiel, Pßügerstr. 3, Neukölln.

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