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  • Kultur
  • „Sisyphos“, neue Texte von LUTZ RATHENOW

Das Messer im Kopf

  • BERND HEIMBERGER
  • Lesedauer: 3 Min.

Der unverdrossene Steineschlepper Sisyphos war der heroischste Held der DDR, dem niemand einen Orden um den Hals hängte. Schriftsteller und Künstler, von Karl Mickel bis Wolfgang Mattheüer, kürten Sisyphos zum Meister des Mühens im Land der unbegrenzten Mühen. Rathenow kann von dem Land nicht lassen und auch nicht von der stabilsten, strapaziertesten Symbolfigur. „Sisyphos“ heißt eine Sammlung zumeist unveröffentlichter Texte des seit fast zwei Jahrzehnten in Berlin lebenden, Schriftstellers. ,.,.

Lutz Rathenow bleibt thematisch, bleibt literarisch bei seinen Leisten. Die Vergangenheit holt ihn nicht ein. Er holt die Vergangenheit ein, die für ihn wichtig war: die Zeit in der DDR. Auch als Prosaist bevorzugt er den knappen Text -Miniatur, Skizze, Kurzgeschichte, erzählerisch-essayistischen Bericht. Der Sammlung den Stempel „Erzählungen“ aufgedrückt zu haben, geht zu Lasten des Verlages.

Mancher Text muß sein, wie er ist. Mancher ist, wie er ist, im Ansatz erzählerisch. Mancher ist der Ansatz für eine Erzählung, für die der Autor diesmal das Tatsachenmaterial liefert. Je konzentrierter, knapper Rathenow ist, je weniger er erläuternd in seine erzählerischen Texte eingreift, desto substantieller sind sie sowohl inhaltlich wie formal. Desto literarischer sind sie. Die von

Lutz Rathenow: Sisyphos. Erzählungen. Berlin Verlag. 160 S., geb., 32 DM.

der deutschen Literatur seit Jahrzehnten vernachlässigte Miniatur liegt Lutz Rathenow Sie gibt ihm die Gelegenheit, seine Prosa in der Aussage zu pointieren. Das gelingt ihm in längeren Erzählstücken selten. Miniaturen wie' „Das letzte Zimmer“, „Der Ruf“, „Drei Leute“, Szenenwechsel“, auch die abermals publizierten „Vier Liebesgeschichten“ gehören zum Besten in diesem Buch.

Viele Texte thematisieren eine Metapher, die bei Lutz Rathenow immer wieder auftaucht. Es ist die Metapher vom Messer/Beil im Kopf. Nicht die vielkolportierte „Mauer in den Köpfen“ kümmert den Schriftsteller. Er erzählt von der scharfen Klinge im Schädel. Im Schädel eines Schülers, der die Spaltung des Ichs mit dem Satz umschreibt: „Ich lerne, glaubhaft zu lügen. Wir schauen meist Westen. Der Direktor auch... Das Wissen nützt nichts. Ich muß .meinen Vater decken...“ In dieser Wahrheit steckt die Spannung des Lebens in der DDR.

Erfreulich, daß die Erzählungen die gewesene Wirklichkeit nicht auf eine exotische Ebene heben. Die Erlebnisse des Verfassers in diesem Land waren alles andere als exotisch. Schreiben in der DDR bedeutete für Rathenow, sich von

Bedrängungen zu befreien. Bedeutet Schreiben über die DDR für Rathenow, nun befangen zu sein? Weil die Reibungsfläche weg ist? Weil die Kraft des Reibens nachgelassen hat? Weil nicht mehr zu entflammen ist, was bereits zur Asche wurde?

Vor den Erzählungen des Schriftstellers sitzt man wie vor einem Kamin. Die Nasenspitze wird warm. Der Rücken bleibt kalt. Im einleitenden Text wird, gleich einer Ouvertüre, die Metapher vom Messer/Beil zum Klingen gebracht, um in dem Akkord auszüklin-

gen: .....langweile mich dem

Schluß entgegen“. Die Geduld werden nicht alle Leser für alle Geschichten aufbringen. Sie werden abbrechen, wenn den Schreiber sein sechster Sinn für das Satirische verläßt, wenn der Essayist dem Erzähler das Wasser abgräbt, wenn die Selbstbelehrung zur Belehrung der Leser wird.

Was Sisyphos der Stein ist, ist Rathenow das Wort. Wie der strapazierte Sisyphos ist Rathenow ein nimmermüder Wiederholungstäter. „Sisyphos von einer Zelle träumend/ Schön klein soll sie sein. Hineinsperren solle man ihn/ Da paßt der Stein nicht mit rein.“ Das wäre der Alptraum für den Autor: an einem Ort zu sein, wo kein Platz für den Stein ist. Lutz Rathenow wird, weil er das muß, seine Worte weiter rollen.

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