Mediziner warnt vor den Folgen einer unterschätzten Sucht
Martin Koch
Lesedauer: 5 Min.
»Ich habe früher in Tagträumen gelebt und mir immer einen Mann vorgestellt, der zu mir passt«, erzählt Marianne. »Ich habe mir ausgemalt, wie wir uns kennen lernen, ins Bett gehen und miteinander Sex haben. Zum Schluss waren meine Gedanken voller Lüsternheit. Das hat mich erregt und dann habe ich onaniert.« Ist Marianne sexsüchtig? Sie scheint zumindest gefährdet, sofern es ihr nicht gelingt, ihre Begierde zu kontrollieren, meint der Arzt und Psychotherapeut Kornelius Roth, der in einem Sachbuch detailliert beschreibt, wie Sexsucht entsteht und wie man sie behandeln kann.
Roth sei damit der erste deutschsprachige Autor, betont der Schweizer Suchtforscher Walther H. Lechler in seinem Vorwort, der sich mit diesem weithin unterschätzten Phänomen auseinandersetze. Einem Phänomen, von dem in Deutschland schätzungsweise eine halbe Million Menschen betroffen und die meisten davon therapiebedürftig seien. Dem steht allerdings die Tatsache entgegen, dass Sexsucht als eigenständiges Krankheitsbild im Diagnostikhandbuch der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bisher gar nicht vorkommt.
Ein Grund könnte sein, dass selbst unter Experten die Erscheinungsformen dieser sexuellen Störung verschieden gedeutet werden. Während die einen von »sexueller Süchtigkeit« sprechen, reden andere von »zwanghaftem Sexualverhalten« oder »sexueller Perversion«. Es war bekanntlich Sigmund Freud, der den Begriff der Perversion vielfach kolportiert hat, um damit jedes von der »Norm« abweichende und von der Gesellschaft als störend empfundene Sexualverhalten zu kennzeichnen. Doch nicht die abweichende sexuelle Betätigung sei das Grundmerkmal der Sexsucht, meint Roth, sondern das süchtige Erleben schlechthin und der damit verbundene Kontrollverlust.
Das heißt: Bei einem Sexsüchtigen wird die schönste Nebensache der Welt zur alles prägenden Hauptsache des Lebens. Familie, Partner, Arbeit, Geld - all dies opfert er notfalls für den sexuellen Kick, der ihm jedoch keine wirkliche Befriedigung beschert, sondern ihn eher antreibt, nach weiterer sexueller Betätigung zu suchen. Ein Vater berichtet: »Meine Sucht hat immer sehr viel Zeit in Anspruch genommen, und ich hatte keine Kraft und Energie mehr in unserer Ehe und auch nicht für unsere Kinder. Wenn ich mit dem sexuellen Ausleben beschäftigt war, habe ich meine Familie komplett vergessen.« Viele Sexsüchtige werden überdies von starken Schuld- und Schamgefühlen geplagt. »Wenn ich nachts auf einem Waldparkplatz einen anonymen sexuellen Kontakt gehabt habe«, erzählt eine Frau, »sah ich mein Gegenüber oft gar nicht richtig. Wenn wir anschließend auf die Parkplatzlichter zugingen, dachte ich häufig: Oh Gott, was war denn das für ein Typ, mit dem ich da Sex hatte. Mensch, bist du tief gesunken.«
Was sind die Ursachen für ein solches Verhalten, das die Betroffenen selbst als entwürdigend empfinden, aber offenkundig nicht abstellen können? Bei der Beantwortung dieser Frage richtet Roth seinen Blick nicht nur auf das Individuum und dessen Lebensgeschichte, sondern auch auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen: »Die Sexualität selbst ist ein Konsumartikel geworden. Sie ist eine Ware, die überall zur Verfügung steht.« Je mehr Sex, desto besser - lautet das Motto unserer Gesellschaft, die von erotischen und sexuellen Reizen geradezu überflutet wird.
Doch nur, wer für diese Reize in spezieller Weise empfänglich ist, läuft Gefahr, zum »Sexaholiker« zu werden. Manche Frauen und Männer scheinen schon von ihrer biologischen Konstitution her für ein solches Schicksal prädisponiert. Bei ihnen werden die körpereigenen Opiate (Endorphine), die das Gehirn bei der sexuellen Betätigung ausschüttet, rascher abgebaut als bei nicht süchtigen Menschen. Sie brauchen daher auch rascher den nächsten Kick, denn Endorphine dämpfen nicht nur die Angst und erzeugen intensive Glücksgefühle, sie machen in gewisser Weise auch abhängig.
Viel öfter jedoch seien kindliche Traumata, hervorgerufen durch sexuellen oder emotionalen Missbrauch, die Auslöser der Sucht, meint Roth. Dabei entwickeln die Betroffenen im Erwachsenenalter starke Schamgefühle und leiden unter Selbstwertproblemen. Sexsüchtiges Verhalten kann in diesem Fall als Versuch gedeutet werden, die im Kindesalter vermisste Zuneigung im Nachhinein zu erlangen und dadurch die quälenden Probleme abzuwehren. Das Resultat freilich ist häufig ein ganz anderes, wie Roth aus eigener therapeutischer Erfahrung zu berichten weiß: »Leider verändert süchtiges Verhalten schlechte Gefühle und Defizite nur kurzzeitig, langfristig werden sie verstärkt.«
Als letzter Ausweg aus diesem Teufelskreis bleibt oft nur eine Therapie, die normalerweise mit einem dreimonatigen »Zölibat« beginnt. Dabei sollen die Patienten ein neues Verhältnis zu ihrer sexuellen Lust gewinnen und lernen, Intimität ohne Sexualität zu erleben. Das mag für manchen eine durchaus heilsame Erfahrung sein. Darüber hinaus empfiehlt Roth gleichsam als Einstieg zur Bewältigung der Sucht eine grundlegende Veränderung der Lebensführung, seine diesbezüglichen Ratschläge indes dürften viele Betroffene wohl eher als Zumutung empfinden. Denn diese sollen bei Bedarf nicht nur ihren Computer abschaffen und Disco oder Sauna meiden. Nein, sie sollen auch strenge Disziplin im Alltag üben, sich gut pflegen und ordentlich kleiden, um so ein positives Körpergefühl zu entwickeln. Leider enthält das Buch eine ganze Reihe solcher »erzieherischen« Hinweise, auf die der Autor im Interesse seines Anliegens besser verzichtet hätte.
Denn dass es Menschen gibt, die unter den Folgen ihres gleichsam süchtigen Sexualverhaltens leiden und therapeutische Hilfe benötigen, ist schwer zu leugnen und wird auch durch die zahlreichen Interviews bekräftigt, die Roth in seinem Buch dokumentiert hat. Ob es sich dabei allerdings um ein Massenphänomen mit hoher Dunkelziffer handelt, wie der Autor unterstellt, bleibt zu bezweifeln. Gerade die Sexualität ist so vielgestaltig, die sexuellen Fantasien und Wünsche der Menschen sind so unterschiedlich, dass Wissenschaftler statt von »der Sexualität« heute sogar von »den Sexualitäten« des Menschen sprechen. Und auch die Ekstase gilt dabei als legitimes Mittel der Lustbefriedigung und nicht als deren krankhafte Entartung.
Es gehört ohnehin zu den Merkwürdigkeiten unserer Gesellschaft, dass jede Abweichung von einer vermeintlichen Norm des Verhaltens gleich als therapiebedürftig eingestuft wird. Die Therapeuten mag's freuen. Doch die Vielfalt menschlicher Bedürfnisse, Neigungen und Verhaltensweisen ist kein Makel, sondern ein Vorzug unserer Kultur. Das gilt auch für die Sexualität, die viele Frauen und Männer noch immer als Last oder Zwang erleben, statt darin sinnliche und emotionale Erfüllung zu finden. Wenn überhaupt, dann liegt hier der Nährboden für jenes oft missverstandene Phänomen, das Roth und andere Psychotherapeuten Sexsucht nennen.
Kornelius Roth: Wenn Sex süchtig macht. Einem Phänomen auf der Spur. Christoph Links Verlag, 207S., 14,90 Euro
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