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  • Kultur
  • .UNSER ZEICHEN WAR DIE SONNE“

Gelebtes und Erlebtes aus vier Jahrzehnten FDJ

  • Lesedauer: 5 Min.

Unter dem einem bekannten Lied der frühen FDJ entlehnten Titel „Unser Zeichen war die Sonne“ brachte der Verlag Neues Leben zum 50. Jahrestag der Freien Deutschen Jugend „Gelebtes und Erlebtes“ aus vier Jahrzehnten des sozialistischen Jugendverbandes heraus. Keine Geschichte der FDJ schwebte Herausgeber Hans Modrow vor, wie er auf der Pressekonferenz vergangene Woche zur Präsentation der Publikation in Berlin betonte. Vielmehr habe man ein Buch mit dem Anspruch vorlegen wollen, das sich von heutigen inkompetenten Beurteilungen (warum nur von heutigen?) des DDR-Jugendverbandes unterscheide.

An „Kompetente“, sprich Historiker, appelliert Modrow, sie mögen die FDJ-Geschichte nicht nur aus Akten rekonstruieren, sondern auch unter Berücksichtigung noch lebender Zeitzeugen. Solche stellen sich in dem Band auf vielfältige Weise vor. Wer sich für Geschichte offen zeigt, findet in den persönlichen, retrospektiv gehaltenen Selbstporträts, vor allem der FDJler der ersten Stunden, erstaunlich viel Of-

fenheit. Anschaulich und glaubwürdig zeichnen sie ihre individuellen Wege in den neuen Jugendverband, differenziert die damalige von seelischen und materiellen Trümmern geprägte Situation nach und vermittelt so das breite Spektrum der Motivationen der Nachkriegs-Jugend.

Der Schriftsteller Helmut H. Schulz erinnert an den alten „Sozi“, der im Jugendausschuß in der Greifenhagener Straße „...alle mit in die neue Zeit ziehen“ wollte - ein Anspruch, den die spätere FDJ nicht müde wurde zu postulieren. Unerreichtes Ziel vielleicht (auch) deshalb, weil viele von denen, die sich mit Elan und Tatkraft den Mühen der Ebene stellten, bald nur noch mit den Mühen der Leitungsebenen zu kämpfen hatten.

Keiner der Autoren wurde als Antifaschist geboren, aber alle benennen gute Gründe für ihren Antifaschismus und dafür, warum sie trotz verschiedener Erfahrungen mit der sowjetischen Besatzungsmacht, „... hoffnungsvoll auf den Stern im Kreml blickten“ Klaus Herde, desillusionierter und verwundeter Soldat, Neulehrer

Hans Modrow (Hg.): Unser Zeichen war die Sonne. Gelebtes und Erlebtes. Verlag Neues Leben, Berlin 1996. 320 S., br., 38 DM.

und enthusiastisch wirkender Kinderland-Arbeiter, dann im FDJ-Zentralrat. Gerhard Kirner, 17jähriger „Volksstürmer“, ebenso überzeugter Kinderländler wie Herbergsleiter, später in der Zentrale der Pionierorganisation. Hans Bentzien, leidenschaftsloser Ex-Kriegsmatrose und leidenschaftlicher FDJler, später als Kulturminister in der DDR tätig. Eberhard Schröder, Soldat und amerikanischer Kriegsgefangener, FDJ- und ABFler, dann 1. Kreissekretär der FDJ-Steglitz. Und nicht zuletzt Hans Modrow, 17jähriger „Volksstürmer“, sowjetischer Kriegsgefangener, später in den bekannten Funktionen.

Modrows Schilderung eigener Erfahrungen im „Apparat“ zeigt frappierende Ähnlichkeiten mit Landolf Scherzers Bericht über den Thüringer SED-„Ersten“ Es erinnert an einen Kampf gegen Windmühlenflügel, wenn Modrow vom Spagat zwischen dem Willen (einiger)

Funktionäre zu jugendgemäßen Formen bzw realer Interessenvertretung berichtet und konstatiert: Die Jugend sollte zur FDJ kommen, aber die FDJ ging nicht zur Jugend.

Vermutlich ist Fred Dellheim, FDJler in Großbritannien und Freiwilliger in der britischen Armee im Kampf gegen Nazi-Deutschland, zuzustimmen, wenn er - ohne jeglichen Vorwurf - meint, späteren FDJ-Generationen fehlte ein einprägsames Schlüssel-Erlebnis für tieferes Engagement. In der Tat kamen die durch den langjährigen Sekretär für Internationale Verbindungen im FDJ-Zentralrat, Jochen Willerding, aufgezählten Grunderlebnisse DDR-Jugendlicher für ein Engagement in der internationalen Solidarität meistens aus „zweiter Hand“ Auf Grenzen des realen Internationalismus', z. B. eines freiwilligen Einsatzes in Vietnam, verwies bereits vor 20 Jahren Ruth Werner in „Sonjas Rapport“. Sicher konnten auch spätere FDJler zu ihrem Antifaschismus kommen, wie es Hans Coppi anhand seines Weges mit allen Widersprüchlichkeiten darstellt.

Ein schonungslos-ehrlicher Beitrag findet sich aus der Feder von Hans-Dieter Schutt, ehemaliger Chefredakteur der Jungen Welt und Zentralratssekretär. Warum von den Millionen Lesern der Jungen Welt schließlich immer weniger an sie glaubten, schildert er auf anschauliche Weise und ohne nachträgliche Miesmacherei. „Auch mit dem, was von mir in der Jungen Welt stand, sind Menschen in die Oppostion getrieben worden oder in einen Zorn, der sich aufgrund der Machtverhältnisse in der DDR in Ohnmacht aufrieb... Diese Qualität unserer Arbeit, auf die wir mal stolz waren“, so Schutts treffendes Resümee, „schlägt nun auf uns zurück, und die Bewahrung dessen, was an der FDJ positiv war, kann auf keinen Fall gelingen durch Verklärung, verkrampftes Zurechtrücken und trotziges Zurückweisen der bitteren Wahrheiten - schon gar nicht durch enttäuschte und in ihrem Selbstwert beleidigte Insider“

Eben so liest sich (leider) der Beitrag von Jupp Angenfort, einst Leiter der westdeutschen FDJ. Wider besseren Wissens schreibt er, die West-FDJ habe

eine ..... eigenständige Politik

betrieben, die den wesentlichen Interessen der westdeutschen Jugend entsprach“ Über die reale Geschichte der West-FDJ erfährt der Leser auf solche Art wenig. Und wer soll denn wirklich glauben, Erich Honeckers einziger Fehler als FDJ-Vorsitzender sei das Vertrauen in seinen damaligen Stellvertreter Heinz Lippmann gewesen? Es spricht doch Bände über das Wesen des „Apparates“, wenn Hans Modrow, Lippmanns Genosse im Zentralratssekretariat, bis heute nichts Genaues über Lippmanns Flucht in den Westen weiß.

Es ist den Autoren und dem Herausgeber für dieses interessante Buch zu danken, wenngleich die insgesamt spannende Lektüre mit dem Beitrag der heutigen fdj einen auffallenden Bruch erfährt. Den Lesebuchcharakter verstärken zwischen den Beiträgen aufgenommene Liedtexte, die „tatsächlich einmal gesungen wurden“. Die knappe Chronik am Ende des Bandes enthält ebenso viele Eck-Daten wie Lücken.

MICHAEL HERMS

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