Zurück in Reih und Glied

Zum 100. Geburtstag von Nikolai Ostrowski erscheint »Wie der Stahl gehärtet wurde« neu

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 5 Min.
Pawel Kortschagin - sein Schicksal hat Generationen bewegt: Der zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts im ukrainischen Schepetowka geborene Arbeitersohn schlägt sich in den Revolutions- und Bürgerkriegswirren seiner Jugendjahre auf die Seite der Bolschewiken und schenkt sein so junges Leben bedingungslos dem Aufbau der Sowjetunion. »Pawluscha« verliert in der Folge der vielen kleinen und großen Kämpfe, die er für die Sache ficht, sein Augenlicht und die Kontrolle über seinen Körper. Als der Krieg vorüber ist, zählt er nicht viel mehr als 20 Jahre, ist Komsomolze, Parteimitglied, Funktionär - am ganzen Körper gelähmt und dem Tode viel näher, als er es wahrhaben will. Unfähig zu anderer Arbeit, diktiert er einem Mädchen die Geschichte seines Lebens, um sich wenigstens auf dem Papier seinen größten Wunsch erfüllen zu können: »in Reih und Glied« der Genossen zurückzukehren. Pawel Kortschagin ist das literarische Ebenbild Nikolai Ostrowskis, der heute vor 100 Jahren geboren wurde. Er starb im Alter von 34 Jahren am 22. Dezember 1936 - zwölf Jahre nach Lenin, 17 Jahre vor Stalin. Ostrowskis autobiografischer Roman »Wie der Stahl gehärtet wurde« war bis 1989 Pflichtlektüre für ganze Schülergenerationen in der DDR. Danach drohte er - wie so vieles andere - im Schmelztiegel der Vergessenheit zu zerfließen. Doch Schrift bleibt sich (im Gegensatz zur verklärenden Erinnerung) treu. Ein Buch ist auch nach Jahren im Giftschrank noch dasselbe Buch. Nicht an seinem Wortlaut frisst die Zeit, höchstens an seiner Hülle. Keiner weiß, wie viele Exemplare von Ostrowskis Roman seit 1989 vergilbt und zerfallen sind, verbrannt oder recycelt wurden. Tatsache aber ist, dass »Wie der Stahl gehärtet wurde« schon seit langem nicht mehr auf dem deutschen Buchmarkt lieferbar ist. Das wird sich nun ändern. Im Leipziger Kinderbuchverlag leiv erscheint Ostrowskis Buch dieser Tage in einer Neuauflage. Aber wer wird dieses Buch heute lesen? Ewig Gestrige, die Pawel Kortschagin noch immer als den selbstlosen Helden betrachten, der sein Leben für die Wahrheit, also den Kommunismus, opferte? Alternde DDR-Romantiker, die - damals zur Lektüre verpflichtet - nun freiwillig noch einmal den Geist ihrer Jugendzeit heraufbeschwören wollen? West-Linke, denen Kortschagins tragisches Schicksal bislang unbekannt geblieben ist, und die nun in ihm eine Leitfigur finden können? Oder - schließlich ist leiv ein Kinder buchverlag - Jugendliche von heute, deren Lesefähigkeit sich doch angeblich auf mobiltelefonisch übermittelte 160-Zeichen-Botschaften beschränkt und die höchstens eine neue Version der Play Station für revolutionär halten? Nun, ich habe das Buch gelesen. Und irgendwie gehört ein Stück von mir zu jeder dieser Zielgruppen. Gerade jung genug, um an der Schullektüre in der DDR vorbeigekommen zu sein und erst im Westen wirklich erwachsen geworden, hätte ich Ostrowskis Roman ohne den leiv Verlag wohl zeitlebens nicht mehr in die Hand genommen. Ich hätte etwas verpasst. Heute gelesen, hat »Wie der Stahl gehärtet wurde« die erzieherische Funktion vollständig eingebüßt, die dem Buch einst beigemessen wurde. Nicht aber seine Faszinationskraft oder gar die Existenzberechtigung. In seinem Verhältnis zum Leser kann ein Roman binnen weniger Jahre um Dekaden altern, das habe ich beim Lesen gespürt. Selten hat ein Buch mich gleichzeitig so fasziniert und abgestoßen. Faszinierend ist vor allem die Bedingungslosigkeit, mit der Pawel Kortschagin für seine Wahrheit kämpft, die ihm ganz ohne Zweifel die einzige ist. Abstoßend die Ignoranz gegenüber anderen Wahrheiten, die für Pawel nichts als Versuchung und Lüge sind. Die uneingeschränkte Hinwendung zu ihrer Klasse, zu ihren Genossen, macht Held und Autor nicht nur stahlhart, sondern gleichzeitig erschreckend blind - nicht nur auf den Augen. Die rote schwarz-weiß-Logik wird in Ostrowskis Schmiede bis zur Glut getrieben. Wenn ein einstiger Genosse und Kampfgefährte zum Trotzkisten wird und Kritik an der Partei übt, dauert es nur noch ein paar Seiten, bis der Leser ihm als Säufer und Hurenbock begegnet. Als wäre dies die logische Konsequenz seiner politischen »Verfehlung«. Doch nicht nur Überzeugungen, auch nationale und soziale Zugehörigkeiten bestimmen hier von vornherein das Wesen eines Menschen. Zur jungen Tonja, Tochter des Oberförsters und als solche etwas Besseres, kann Pawel in seiner Kindheit noch eine Beziehung aufbauen, doch je älter beide werden, desto klarer wird, dass diese Liaison qua Geburt zum Scheitern verurteilt ist. Was sich zunächst als Romeo-und-Julia-Geschichte anbahnt, wird alsbald auf dem Amboss zerschlagen. Mit selbstverachtender Disziplin lässt der Autor seinen Helden jedes Gefühl niederringen, das ihn und nicht die Gemeinschaft betrifft. All seine stählerne Kampfeskraft, seine Zähigkeit und Ehrlichkeit selbst beim Töten bewahrt ihn nicht vor der größten Schwäche: der Liebe immer aufs Neue aus dem Weg zu gehen. Erst als Invalide heiratet Kortschagin doch noch: um seine Braut aus dem Joch ihres kleinbürgerlichen Vaters zu retten und sie für die Partei zu gewinnen. Das muss man sich mal vorstellen! Ich kann es mir nicht vorstellen. Zu fern sind mir der Enthusiasmus und die Erbarmungslosigkeit der Zeit, aus der Ostrowski vom harten Kampf Kortschagins und seiner Genossen erzählt, von der Zuversicht, mit der sie inmitten ihrer rauen Gegenwart für eine bessere Zukunft streiten. Der sowjetische Autor wollte in den frühen 1930er Jahren der Jugend einen Helden geben, dem es nachzustreben gilt. Aber wer wollte sich heute einen zum Vorbild nehmen, dessen Weg trotz aller Lauterkeit des Zieles in die Irre geführt hat? Pawel Kortschagin ist von der pädagogischen zur historischen Romanfigur geworden. Nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, von dem der Autor nur das erste Drittel erleben durfte (oder musste?), erscheint es mir absurd, Freund und Feind, Gut und Böse in Stein zu meißeln, in Stahl zu gießen. Viel mehr als Bewunderung spüre ich Mitleid für diesen fragwürdigen Abenteurer, den eine Zeit wie die unsere nicht hervorbringen kann. Um ein Leben wie Pawel Kortschagin zu führen, muss man von der historischen Notwendigkeit seines Handelns überzeugt sein. Das westliche 21. Jahrhundert ist in all seiner Beliebigkeit von einer solchen Überzeugung weit entfernt. Eine zweite Oktoberrevolution wird es nicht geben. Dem innigen Wunsch zum Trotz, es möge sich endlich mal etwas bewegen, bin ich irgendwie froh darüber. Nikolai Ostrowski: Wie der Stahl gehärtet wurde, leiv Verlag, 460S., Pappband, 10,90 EUR
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