- Kultur
- Goethes „Urfaust“ für junge Zuschauer: im Staatstheater Cottbus sowie im Berliner carrousel
Ein Turnschuh-Mephisto und Gretchen im Lederlook
Er hatte ihn gar nicht gelten lassen wollen, diesen ersten kühnen Entwurf seines „Faust“, und nur durch die heimliche Abschrift einer seiner jugendlichen Verehrerinnen ist das Manuskript der Nachwelt erhalten geblieben. Seitdem geht es als „Urfaust“ oder - in etwas reiferer Version - als „Faust/Fragment“ über die Bühnen, viel öfter als der „echte“. Er hat nicht die philosophische Weitläufigkeit des späteren „Faust I“ und ist doch der große Wurf des erst 25jährigen Goethe, eine Dichtung der Leidenschaft und der tragischen Verstrickungen - ein Stück über junge Leute und für sie.
So sind auch die beiden „Urfausf'-Inszenierungen der letzten Wochen auf junges Publikum gezielt: im Staatstheater Cottbus der „Urfaust“ und im carrousel Theater an der Berliner Parkaue das „Urfaust/ Fragment“ Junge Besetzung, moderne Ausstattung und zeitgenössischer Impetus, die Regie ohne betuliche Redseligkeit und „Einschüchterung durch Klassizität“ Und dennoch: Zwei völlig unterschiedliche Ansätze.
In Cottbus hatte Andreas Dresen (33), Filmemacher aus Babelsberg und vielfach für seine Filme mit Preisen ausgezeichnet, sein Theaterdebüt. Er ging sorgfältig der Dichtung nach und entdeckte ein Volksstück ganz modernen, heutigen Zuschnitts. Faust, der Student hinter bücherbepacktem Tisch (Nils Brück), der raus will aus seiner Bude, sich mit dem Teufel verbindet und von jungenhafter, verzehrender Zuneigung zu Margarete ist. Mephisto, eine hinkende, behörnte Volksfigur der Turnschuhgeneration (Dirk Glodde), ein wenig verkommen, intelligent und mit behaartem Schwanz, der auch mal zum Phallus umimprovisiert wird. Und Gretchen mit Bike und
Baskenmütze: selbstbewußt, unsentimental, doch gefühlsstark und sehr modern (Corinna Breite). Spontane, ungebrochene Glückseligkeit. Auf einer weit schwingenden Schaukel „Meine Ruh ist hin...“. Liebesszenen von berührender Zartheit. Darüber ein Mond in einem wunderschönen, blauschwarzen Sternenhimmel, wie er nur auf dem Theater sein kann (Ausstattung Gundula Martin).
Dazwischen auf einem Hinterhof zwischen Blechtonnen
und unter Schneegekriesel einige kaputte, fröhliche Typen: Auerbachs Keller unter Pennern (Oliver Bäßler, Michael Krieg-Helbig, Michael Becker); und ewig geschäftig zwischen Wäschewaschen und Anmachen Susann Thiede als Marthe. Gelöste Heiterkeit, dann der rauhe, bittere Ton des Valentin (ausgezeichnet Hardy Halama). Am Ende Margarete in der Zwangsjacke einer psychiatrischen Anstalt. Nein, sie will nicht zurück in diese Welt. Die Tragödie ganz aus der spontanen, irrenden Natur
junger Menschen gespielt - Betroffenheit der Zuschauer, und langer, stürmischer Beifall der Premierenzuschauer.
Im carrousel heben Peter Schroth (Regie) und Lothar Scharsich (Ausstattung) von der Individualtragödie völlig ab und spielen das Stück in einem abstrakten Raum: Jeder kann Faust, jeder Mephisto oder das Opfer Gretchen sein. In jedem Menschen ist die Versuchung, ist schöpferische Unrast, die Glückserfüllung oder Zerstörung bedeuten kann. Acht Dar-
steller (Vera Kreyer, Grit Riemer, Elke Reuter, Karin Schroth, Arnim Beutel, Sebastian Kautz, Steffen Pietsch, Thomas Pötsch) spielen, sinnvoll wechselnd, alle Rollen. Nicht Faust ist in der Krise, sondern ein Gemeinwesen: Nach anheimelnder, deutschseliger Idylle mit dem nächtlichen Schlag der Kirchturmuhr und einer Kunstmusik zwischen Bach und Horst-Wessel-Lied (Christoph Theusner und Sonny Thet) krachen acht Zellentüren auf. Acht junge Leute wissen, nicht, mehr, was. die
Welt im Innersten zusammenhält und verbünden sich mit geisterhaften, dumpfen Mächten. Am Ende des Abends stellt die Krise ihre Opfer aus: die Frauen. Verurteilt und zusammengebunden empfangen sie den Hohn und das Bedauern der Männer, bevor sie in einer Art Gruft nach hinten gekarrt werden und der Himmel auf die Männer niederstürzt.
Da ist Goethes Text kräftig gezwirbelt, anders gegliedert und auch kabarettistisch aufgemotzt („Auerbachs Keller“ als Nische für nostalgische, weinselige 89er der Heldenstadt Leipzig). Einiges ist albern oder pfropft Metaphern auf Text, die er nicht trägt. Dennoch kann man sich der aufreizenden, verqueren, aber in sich schlüssigen Art dieses Theaters nicht entziehen, in der die Frauen-Tragödie am überzeugendsten gelang. Gretchen ist Girl im Lederlook, Arbeitsfrau mit Häubchen und junges Mädchen wie aus einem Bild von Gustav Klimt: von schmachtender, romantischer Liebessehnsucht. Ein parodistischer Schimmer liegt über den Schwüren der Liebe, dazwischen in Gestalt einer Schwarzen Frau schon der Tod als Ankündigung des tragischen Ausgangs.
Es wird weitgehend simultan in und vor Lothar Scharsichs Spielzellen agiert, die Wohnstübchen, Gruft oder Küche sein können. Die Walpurgisnacht bricht minimiert als Kasperletheater mit Barbie-Hexenballett und anderen Puppen herein. Die betont stimmunggebende Musik schafft Kontrast zum teils heftigen, unruhevollen Rhythmus der Aufführung, die jubelnde Zustimmung und langen Beifall der jungen Zuschauer erhielt.
Zwei Versuche, wie sie gegensätzlicher nicht sein können. Jede Aufführung hat ihren eigenen Reiz und gute Chancen, ihrPublikum zu finden.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.