Den Blick aufs Pult gerichtet

Im Schulmuseum Reckahn bei Brandenburg an der Havel kann man eine Schulstunde aus der Kaiserzeit nachspielen

  • Marina Mai
  • Lesedauer: 4 Min.
Bevor die Gäste das Schulgebäude betreten, sollen sie ihre Füße fein abkratzen und einen Knicks oder einen Diener machen, erläutert Marianne Dengler den Neuankömmlingen. Aber ihr Name interessiere nicht, fügt die Pensionärin hinzu. »Für euch bin ich nur das Fräulein Lehrerin.« Die 20 Gäste einer Geburtstagsgesellschaft im Alter zwischen 8 und 70 Jahren wollen im Schulmuseum im Dorf Reckahn in Brandenburg eine Schulstunde aus der Kaiserzeit erleben. Das Museum ist in den Räumen untergebracht, in denen der Gutsherr und Pädagoge Friedrich Eberhard von Rochow 1774 Preußens erste ganzjährige zweiklassige Landschule eingerichtet hatte. Ganz so alt sind die schmalen Schülerbänke nicht, auf die sich die Gäste zwängen, nachdem sie in Zweierreihen, nach Geschlechtern getrennt, den winzigen Raum betreten haben. Der war bis 1946 die »obere« Klasse von Reckahns Dorfschule. Aber immerhin: Mobiliar, Schiefertafeln, Tintenfässer und Gänsefedern stammen aus der Zeit um 1900, als Preußens Schulen brave Untertanen, die einmal mit Gott, für Kaiser und Vaterland in den Krieg ziehen sollten, in Schreiben, Rechnen, Naturkunde, Religion und Gesang unterwiesen. Bis zur Wortwahl atmet der Schulraum den Geist des Militarismus. »Tornister« hießen etwa die Schulmappen, wie die Rucksäcke der Soldaten. »... und mache mich recht fromm und gut«, endet das Morgengebet, ohne das in der Kaiserzeit keine Schulstunde begann. Danach erläutert das »Fräulein Lehrerin« die Regeln der preußischen Dorfschule: »Die Hände der Schüler sollen auf den Tischen ruhen.« Entweder sind sie ineinander verschränkt oder ruhen parallel zueinander. »Das ist aber auch alles, was sich Schüler damals aussuchen durften«, schlüpft Marianne Dengler aus ihrer Rolle. Alles andere schrieb ein Erlass vor, den Preußen zum Reichschulgesetz von 1872 herausgab: Die Beine haben parallel zueinander unter den Tischen zu sein. Der Blick ist nach vorn gerichtet, auf das Pult. Wer den Blick schweifen ließ, konnte bestraft werden. Das verpflichtete die Schulmeister und ihre weiblichen Gehilfen, denen etwa der Handarbeitsunterricht anvertraut war, die Unterrichtsstunde über ununterbrochen hinter dem Pult zu stehen. Es sei denn, man maßregelte gerade einen Schüler oder kontrollierte die Schreibarbeiten. Die Verordnung regelte sogar, wie die Schüler antworteten sollten: Im ganzen Satz, der mit dem Zusatz »Fräulein Lehrerin« oder »Herr Lehrer« zu enden hatte. »Es ist normal, dass unsere Gäste über diesen preußischen Untertanengeist erst einmal lachen müssen«, erläutert Marianne Dengler. Aber nach einiger Zeit beginnen sie mitzuspielen. So wie die 50-jährige Frau, die nicht ohne Konflikte neben ihrem zehn Jahre jüngeren Neffen auf der schmalen Bank Platz gefunden hat. »Der schubst mich, Fräulein Lehrerin«, nimmt sie das Spiel auf. Marianne Dengler beeindruckt das nicht. »Du sollst nicht petzen.« Damit fegt sie jeden Widerspruchsgeist vom Tisch, ganz wie die Lehrer vor 100 Jahren. Man merkt der resoluten Dame durchaus an, dass sie selbst lange Jahre vor einer Klasse gestanden hat. Sie war bis vor sieben Jahren Geschichtslehrerin. Die Schreibstunde beginnt mit dem Buchstaben »i«, den die Schüler in Sütterlinschrift auf ihre Schiefertafeln schreiben sollen. Aber damit sich diese Utensilien nicht allzuschnell abnutzen, wurden die ersten »Schreibübungen« in der Luft ausgeführt. Marianne Dengler steht am Pult, den Rücken zur Klasse, und demonstriert den Bewegungsablauf. »Rauf - runter - rauf - Pünktchen drauf«, so der Spruch, den die Lehrerin dabei sagt und den die Schüler immer wieder im Chor wiederholen müssen, während sie in der Luft das »i« malen. Individualität ist nicht vorgesehen. Sitzt der Bewegungsablauf, darf die Schiefertafel benutzt werden. Das ist der Moment, in dem Marianne Dengler das Pult verlässt. Sie geht durch die Reihen, lobt und tadelt für die Ausführung der Schreibübungen und nutzt die Zeit gleich für die Hygienekontrolle. »Lieschen, hast du ein sauberes Taschentuch in der Tasche?«, fragt sie eine ältere Dame. Die zeigt das Gewünschte vor. »Karl, sind deine Fingernägel sauber?«, wird der Sohn des Geburtstagskindes gefragt. Karl, der im wirklichen Leben Ingolf heißt, spielt mit und zeigt seine Hände. Prügelstrafe und Strafestehen in der Ecke werden im Spiel nicht praktiziert. Verordnungen regelten, wann und wie dies anzuwenden war. Geprügelt wurden Jungen auf den Hintern. Mädchen sollten den Rohrstock auf dem Rücken spüren, in der Weimarer Republik auf den Händen. Schulmuseum, Reckahner Dorfstraße 23, 14797 Kloster Lehnin OT Reckahn; Tel.: (033835) 608870. Nach Anmeldung können Gruppen mit bis zu 21 Personen eine Schulstunde aus der Kaiserzeit miterleben. Preis pro Person: 1,50 Euro.

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