Obwohl der internationale Opernbetrieb heute mehr von Regie-Experimenten, Events und gediegener Repertoirepflege lebt, gibt es immer wieder - in letzter Zeit sogar gehäuft - Uraufführungen. Mit einem realisierten Kompositionsauftrag kann sich noch jede Intendanz als zukunftsorientiert präsentieren. Doch Uraufführungen sind immer ein Risiko für den Auftraggeber. Ob es tatsächlich eine neue Oper für den laufenden Betrieb geworden ist, zeigt sich frühestens dann, wenn ein neues Werk das vierte oder fünfte Mal nachgespielt worden ist.
In dieser Hinsicht haben der europäische Theatermann Luc Bondy und der belgische Komponist Philippe Boesmans ihrer dritten gemeinsamen Oper »Julie« einen Rezeptions-Vorsprung gesichert. Nach der Vorstellungsserie, die sich der Uraufführung an der Brüsseler Oper »La Monnaie« anschließt, wird Luc Bondy sie bei den von ihm geleiteten Wiener Festwochen zeigen, bevor sie im Juli beim dritten Koproduktionspartner, den Musikfestspielen im südfranzösischen Aix-en-Provence, gezeigt wird.
Luc Bondy hat nicht nur eine seiner meisterlichen Inszenierungen abgeliefert, die in ihrer unaufgeregten Präzision fasziniert, mit der die Irritationen in den Alltag seiner Figuren einbrechen. Wie schon zwei Mal, im Falle von »Reigen« (1993) und »Wintermärchen« (1999) aus den entsprechenden literarischen Vorlagen von Arthur Schnitzler und William Shakespeare, hat er auch diesmal aus dem der Oper zu Grunde liegenden Strindberg-Stück »Fräulein Julie« (1888) ein klug gebautes, obendrein deutschsprachiges Libretto gemacht. Und Boesmans durchaus bewusst eklektizistische Tonsprache schmiegt sich nicht nur an das gesprochene Wort, sondern schafft Verweise in die Geschichte seiner Figuren und komponiert atmosphärische Zuspitzungen. Wo bei Strindberg beispielsweise jede Menge grölender Leute die Hintergrundmusik liefern, wenn die »Herrin« und der »Knecht« nebenan übereinander »herfallen«, ist es bei Boesmans eine wunderbare Gewittermusik. Ein Kammerorchester genügt dem Brüssler GMD Kazushi Ono, um sowohl die eloquente Spannung der linear verlaufenden Handlung als auch ihre ahnungsvollen Vorgriffe der Katastrophe auszudrücken.
Bei Strindberg und in der Opernversion gerät eine ungleiche Dreierkonstellation in einer ungewöhnlichen Situation gänzlich aus den Fugen. Im aufscheinenden Versuch, gegen soziale Schranken zu revoltieren, entfaltet sich ein erotisch grundiertes Spiel von Dominanz und Unterwerfung. Die Grafentochter Julie, die nicht als Mädchen erzogen wurde, und der so ehrgeizige, virile Diener Jean streben aufeinander zu. Die patriarchalisch verinnerlichte Rolle der Frau lässt Julie am Ende, nach dem von ihr so empfundenen »Fall«, zur Selbstmörderin werden. Was bei Strindberg nur angedeutet ist, wird bei Bondy auf offener Bühne gezeigt. Und Jean, der den Traum vom Ausbruch an der Seite Julies in die Schweiz und von einem Leben als Hotelier kurze Zeit mitgeträumt hat, wird sich wieder seiner bodenständigen, lebensklugen Verlobten, der Köchin Kristin, zuwenden. Er wird weitermachen können, als wäre nichts gewesen.
Das bleibt trotz des historischen Abstandes als feines Kräftemessen und Grenzenüberschreiten, in der von Richard Peduzzi detailverliebt, aber ohne überflüssige Ausschmückung gebauten herrschaftlichen Küche mit den hohen Fenstern, ein spannendes Kammerspiel. Was nicht zuletzt an den fabelhaften Interpreten der Uraufführung lag: auf mittlerer Tonlage begegnen sich die Mezzosopranistin Malena Ernman als attraktiv fordernde, dann zerbrechende Julie und der Bariton Garry Magee als seinem Ehrgeiz verpflichteter und dann beim ersten Klingeln des heimgekehrten Grafen stramm stehender Diener Jean. Während Kerstin Avemo die handfest entschlossene Lebensklugheit von Kristin als melodiöse Sopranpartie hinzufügt. In Brüssel gab es herzlichen Premierenbeifall für eine in jeder Hinsicht gelungene Uraufführung!
Nächste Vorstellungen: 17., 19., 23., 25., 30. März und 1. April; im Juni in Wien und im Juli in Aix-en-Provence