• Kultur
  • Reportage - Haus aus Stroh

Eine Strohpolis in der Altmark

Jüngst erst attestierte eine Umfrage den Menschen in der Altmark, sie blickten pessimistischer als andere Deutsche in die Zukunft. Wo aber viel Schatten ist, ist auch viel Licht. In Poppau bezogen 20 Leute ein dreistöckiges Wohnhaus aus Holz, Lehm und Str

  • Stefan Tesch
  • Lesedauer: 7 Min.
Clara und Sonja spielen im Stroh. Auf den Knien kriechend, kleiden sie ihre Puppen neu ein. Überall liegen Kleidchen, Jäckchen, Jüpchen verstreut herum, dazwischen Bücher, Hefte, Stifte Clara und Sonja leben in einem Haus aus Stroh, drei Etagen hoch und mit mediterranen Laubengängen versehen. Und mit ihnen um die 20 Leute, junge und ältere, die allesamt endlich mal »in einem richtigen Neubau wohnen« wollten, wie es Julia Kommerell nennt. Die Kinderbuchillustratorin teilt sich mit mehreren Müttern und Kindern eine sieben Zimmer große WG im ersten Obergeschoss; große Wohnküche, Bäder, Diele inbegriffen. Fast ein wenig selig, thront die 34-jährige im Schneidersitz auf ihrem Bett, lässt ihren Blick durch die Strohstube schweifen und beginnt zu schwärmen: vom »edlen Naturmaterial« und den »dicken Wänden, die ein Flair erzeugen wie in einem alten Landhaus«. Ob da auch die Holzdübel in der Wand halten? Sie lacht. »Alles habe ich noch nicht ausprobiert. Aber ich finde es sowieso schöner, vieles von der Decke heranhängen zu lassen«, mogelt sie sich ein wenig um die Antwort herum. Der große Spiegel steht vorerst noch auf dem Boden. Erst vor kurzem nahm Julia im Strohballenhaus Quartier. Zuvor redete sie bei der Gestaltung mit, packte hart beim Bau an, hielt es aus, dass sich die Erbauer im Bemühen, alles noch etwas besser zu machen, immer wieder stritten. Denn die Idee fand sie toll: »Das ist solides Bauen!« Immerhin lebte die Ex-Münchnerin in Sieben Linden, einem Ortsteil von Poppau, fünf Jahre lang in einem schlichten Bauwagen. Auch viele andere der rund 70 Bewohner in der altmärkischen Ökosiedlung bevorzugen diese Wohnweise; locker verteilt stehen ihre Gefährte am Rand eines Waldes, in den sich das Ökodorf langsam ausbreitet. »Doch die Zahl der Bauwagen soll nicht mehr wachsen, das haben wir mit der Verwaltungsgemeinschaft Beetzendorf vereinbart«, erzählt Eva Stützel von der Wohnungsgenossenschaft in Sieben Linden, der Bauherrin des ungewöhnlichen Mietblocks. Eva gehört zu den Urgründern der sozial-ökologischen Modellsiedlung, in der einmal knapp 300 Menschen leben sollen. »Unser Grundprinzip lautet, innerhalb des Dorfes kleine geschlossene Lebens- und Konsumkreisläufe zu schaffen, damit uns unser Tun möglichst direkt mit all seinen Auswirkungen gegenüber Natur und Landschaft konfrontiert«, erzählt die 40-jährige, die aus dem Saarland stammt. Zu jener Lebenssicht gehört für die Ökodörfler auch die Herstellung nötiger Baustoffe unmittelbar vor der Haustür. Immerhin besteht einiger Handlungsbedarf. Der Zuzug aus allen deutschen Ecken sei in Sieben Linden so groß, dass das Strohballenhaus mit seinen gut 530 Quadratmetern Wohnfläche - verteilt auf sechs, sieben Wohnungen - schon vermietet gewesen sei, bevor es stand, freut sich Eva. Und eben weil dies absehbar war, kam ihnen die Idee mit »Strohpolis«. Mithin soll ihre räumliche Ausdehnung fortan vollends und ihre gewerbliche Zukunft zumindest teilweise auf Stroh gründen. Neue Häuser sind nicht nur schon angedacht. Von Julias Balkon sieht man es schon hundert Meter weiter kräftig werkeln. Hinter Bretterstapeln entsteht das hölzerne Konstruktionsgerüst für das nächste Strohballenwohnhaus, das dritte in Sieben Linden. Strohpolis, gewissermaßen eine Stadt aus Stroh, ist hierbei Teil der Modellregion Altmark im Rahmen der Projektkette »Regionen aktiv«. Mit ihr will das Bundesagrarministerium Beispiele schaffen, wie nachhaltiges Landleben auch aussehen kann: »In Gestalt einer multifunktionalen Landwirtschaft, die gesunde, sichere Lebensmittel erzeugt und gleichzeitig eine intakte Natur sowie genügend Einkommensquellen im ländlichen Raum sichert«, so Eva Stützel. Sie wollten also keine »Ökohäuser«, die teils auch schon industriell gefertigt würden, zudem aus Baustoffen, die man über den Atlantik schippert und anschließend noch chemisch schimmel- und feuerfest macht. Ihr Prinzip laute auch hier: Kleine Kreisläufe. Also Stroh vom lokalen Bauern, Holz zumindest aus der Region und handwerkliche Leistungen, sofern man nicht genug eigene Spezialisten hat, vom Tischler oder Dachdecker aus dem Nachbardorf. »Wir wollen damit die Menschen im näheren Umkreis finanzieren und nicht eine weit entfernte Industrie«, so Julia Kommerell. Immerhin sei von den Kosten für das Haus, die mit 715000 Euro am Ende »leicht über den Erwartungen« lagen, knapp die Hälfte in Baumaterialien geflossen. Und mit rund 360000 Euro beglich die Wohnungsgenossenschaft die Arbeitsleistungen der Erbauer, »wovon der allergrößte Teil wegen unserer hohen Eigenleistungen im Ökodorf blieb«, freut sich Eva. Denn mittlerweile lebten in Sieben Linden neben Buchlektoren, Pizzabäckern, Kunstgestaltern oder Umweltpädagogen auch zahlreiche »handfeste Handwerker«, an denen es anfangs noch etwas gemangelt habe, schmunzelt sie. Längst erregt die grüne Gemeinschaft, die eins von bundesweit elf Pilotprojekten der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie umsetzt, damit weithin Aufsehen. Denn nirgendwo im Lande entstand bislang ein größeres Wohnhaus einzig aus Holz, Stroh und Lehm. Die Bauleitung oblag Dirk Scharmer, einem jungen Architekten aus Lüneburg, der nun sogar einen nationalen Fachverband Strohballenbau gründete. »Heute gibt es in Deutschland zwölf Wohnhäuser, die auf verschiedene Weise aus Strohballen gefertigt wurden, weitere zwölf entstehen gerade«, teilt er zufrieden mit. Die Bauern hält Scharmer hierbei für seine wichtigsten Verbündeten. Denn sie hätten »halt das Stroh, die Presstechnik, meist gleich noch einen guten Draht zum Sägewerk und oft auch den Bedarf, etwa für eigene Wirtschaftsbauten«. Überdies seien sie große Nutznießer dieser Bauweise, da sich so überzähliges Stroh zwar nicht zu Gold verspinnen, aber doch versilbern lasse. Immerhin errichtete auch das überhaupt erste Strohballenhaus in Deutschland ein Bauer: Albert Warmuth, ein Landwirtschaftsmeister aus der Rhön-Grabfeld-Region. Das Stroh für Strohpolis wuchs auf 20 Hektar - je etwa zur Hälfte in Fluren der benachbarten Landwirtschaftsprodukte e.G. Bandau sowie eines Ökohofes in Apenburg. Beide lieferten bereits einbaufertige Kleinballen, spritzmittelfrei und auf herkömmlicher Technik gepresst. Mit ihnen verfüllten die Ökodörfler, wie Scharmert erzählt, die Balken und Sparren einer Holzständerkonstruktion, die sie auf betonierten Streifenfundamenten errichtet hatten - praktisch ihr einziges Zugeständnis an die Industrie. Ansonsten könnte man das ganze Haus, falls es in ein, zwei Jahrhunderten nicht mehr bewohnbar sei, »auf dem Komposthaufen entsorgen«, grient Burkard Rüger. Auch während des Bauprozesses hätten sie keinen Sondermüllcontainer benötigt, versichert der bärtige Lehmbauexperte, der gerade auf einem Gerüst steht und mit großer Kelle die letzte Außenfassade der auffallend schönen »Strohburg« putzt. Auch innen sei alles mit Lehm geputzt, fügt er hinzu. Als Dämmmaterial dienten neben Stroh auch Hanf und Flachs, die Innenwände hätten sie aus 10 cm starken Strohlehmsteinen aus dem Bernburger Raum gemauert und das Dach mit Tondachziegeln gedeckt. Wen immer man fragt unterm neuen Strohdach, alle fühlen sich »sauwohl«, wie es unisono heißt. In keinem der Zimmer riecht es nach Estrich oder Zement, Holzlasur oder Kunststofffolie. »Eben alles top öko«, kichern selbst die beiden Mädchen. Und dort, wo Strohballen halt gewisse Eigenheiten gegenüber Ziegeln oder Betonelementen aufweisen, münzten dies die Erbauer in ästhetische Vorteile um: Statt scharfer Kanten um Türen und Fenster sind die Öffnungen rund gearbeitet, was dem Ganzen noch eine mondäne Note gibt. Man wolle mit Strohpolis halt den Beweis antreten, dass sich aus verputzten Strohballen-Ständerbaukonstruktionen »kostengünstiger, verdichteter, gesunder Wohnraum schaffen lässt«, so Scharmer. Kein Wunder, dass es schon über 250 Praktikanten, etwa Handwerker, Landwirte und Ingenieure, zu Seminaren und Workshops nach »Strohpolis« lockte. Und auch das schafft zusätzlichen Broterwerb für die Ökodörfler, von denen die allermeisten unmittelbar hier im Waldrandidyll auch ihren Lebensunterhalt bestreiten. Dirk Scharmer sieht das ganze Thema indes erst am Anfang. Denn gerade Dank Strohpolis sei es nunmehr viel leichter, in Deutschland ein Wohnhaus aus Strohballen bewilligt zu bekommen. Es bedürfe nur noch - zusätzlich zum Bauantrag - einer Einzelgenehmigung der Landesbaubehörde, was das Prozedere um etwa vier Wochen verlängere und ein paar Hundert Euro teurer mache, räumt er ein. Doch zumeist behandelten die Bauämter solche Anliegen heute »recht wohlwollend«. Denn eine Reihe amtlicher Prüfzeugnisse, die lehmverputztem Stroh gute Wärmedämm- und Brandschutznoten geben, wurden über das »Regionen aktiv«-Projekt bereits erbracht. Nun fehlten noch Tests in Sachen Schimmelpilzbefall, dann dürfte dieser Technologie auch die allgemeine bauamtliche Zulassung zuerkannt werden, erwartet Scharmer. Er ist guter Dinge, dass sie Mitte 2006 vorliegt, womit »Stroh als Baustoff endgültig aus der Nische« heraus käme und den Landwirten große neue Absatzmärkte eröffne.

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