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  • Politik
  • Rückblick eines Zeitzeugen: Wolfgang Ullmann über vertane Alternativen

Die Ohnmacht des Souveräns

  • Lesedauer: 5 Min.

Es ist heute fast vergessen: Im 41. Jahr der DDR war ein Verfassungsentwurf erarbeitet worden, der seinesgleichen in der deutschen Geschichte sucht. Der Bürgerrechtler und Kirchenhistoriker Wolfgang Ullmann war Mitglied der Arbeitsgruppe »Verfassung« des Zentralen Runden Tisches.

? Warum sollte es noch eine Verfassung für die DDR geben, wo doch die Weichen schon auf Einheit gestellt waren?

Der Entwurf kam auf der Basis eines Beschlusses des Zentralen Runden Tisches auf dessen erster Sitzung am 7. Dezember 1989 im Bonhoeffer-Haus in Berlin-Mitte zustande. Die damals zwar schon geänderte DDR-Verfassung von 1968/74 sah so etwas wie den Beitritt gar nicht vor, ging von der deutschen Doppelstaatlichkeit aus. Mit Artikel 132 haben wir in unserem Verfassungsentwurf die Rechtsgrundlage geschaffen, auf der sich der Beitritt vollziehen konnte. Es gab zudem das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes von 1973, gefällt nach einer Klage Bayerns gegen den Grundlagenvertrag. In dem heißt es, daß auch eine politisch anerkannte DDR der BRD beitreten kann, wie es das Grundgesetz vorsieht - allerdings nur unter bestimmten staatsrechtlichen Voraussetzungen, die mit der 68er DDR-Verfassung nicht gegeben waren.

? Ihr Verfassungsentwurf stieß auf Ungnade in der Volkskammer, und es kam so auch nicht zur geplanten Volksabstimmung über diesen am 17. Juni 1990. Warum?

Weil inzwischen ein ganz anderes Konzept für die Vereinigung vorlag, nämlich über die Währungsunion.

? Mit der Ablehnung wurden auch solch wertvolle Verfassungsartikel wie das Recht auf Arbeit, soziale Sicherheit etc. hinweggefegt, die positive Erfahrungen von DDR-Bürgern kodifizierten.

Es waren Ossis, die das ablehnten.

? Sie erklärten damals: »Das Selbstbestimmungsrecht der DDR-Bevölkerung wird wieder einmal, wie in 40 Jahren zuvor, durch Akklamation erniedrigt.« Sie waren tief gekränkt?

Nicht gekränkt, aber verärgert. Vor allem tat es mir leid, daß nicht »prophylaktisch« etwas getan wurde, war doch voraussehbar, was auf den Osten zukam: Arbeitslosigkeit, Deindustrialisierung etc. Aber das wollten die Leute ja nicht glauben.

Der Verfassungsentwurf des Runden Tisches ist jedoch nicht gänzlich verschwunden. Einige ostdeutsche Landesverfassungen sind stark von ihm geprägt worden, vor allem die brandenburgische. Und auch der Verfassungsentwurf des Kuratoriums für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder griff Elemente des Rund-Tisch-Entwurfes auf.

? An dem im Mai 1991 vorgestellten Verfassungsentwurf des Kuratoriums haben Sie auch mitgewirkt. Auch dieser Entwurf scheiterte. Woran diesmal?

Wieder an der fehlenden Mehrheit. Die SPD hatte unseren Vorschlag (von Bündnis 90/Die Grünen) unterstützt. Aber die regierenden Mehrheiten hatten Angst vor jenen Bestimmungen, die auch schon im Entwurf des Runden Tisches standen und auf soziale Rechte zielten. Vor allem wollte man nicht solche Dinge wie Beteiligungsrechte und Volksabstimmung. Das wird ja bis heute noch perphorresziert. ? Als »Argument« gegen Plebiszite hört man nicht selten, diese hätten zum Untergang der Weimarer Republik beigetragen. Es waren aber nicht die Volkbegehren gegen Fürstenabfindung oder Panzerkreuzerbau, sondern Notverordnungen und der Art. 48 der Weimarer Verfassung, die Hitler an die Macht hievten.

So ist es. Aber in der Regel nehme ich die Weimarer Reichsverfassung in Schutz, selbst den gefährlichsten Artikel 48. Es waren letzten Endes nicht die Privilegien des Präsidenten, die diese Republik zum Scheitern gebracht haben, sondern die unsinnige Politik der Parteien und das Versagen des Parlamentes. Aber das ist eine historische Frage.

? Historische Vergleiche sind mitunter recht interessant. Das Grundgesetz steht hinsichtlich sozialer Festlegungen hinter

der Konstituante des Demokratenkongresses von 1848 wie auch der Frankfurter Paulskirche zurück. Nach gesundem Menschenverstand gehören heute aber klassische Freiheitsrechte und soziale Rechte untrennbare zusammen. Warum diese Widerstände? >

Das ist typisch deutsch. Auf EU-Ebene ist das längst ganz anders. Es ist gerade ein Entwurf über eine Grundrechtscharta fertiggestellt worden, in der selbstverständlich soziale Rechte festgeschrieben sind. Ich denke, diese ablehnende Mehrheit schwindet auch in Deutschland allmählich. Es dauert eben alles etwas länger in Deutschland, aber am Ende wird sich das schon durchsetzen.

? Sie sind optimistisch - dies trotz dreier gescheiterter Verfassungsanläufe, die Sie seit 1990 miterlebten? Sie haben ja auch in der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat (GVK) mitgewirkt, die 1992 einberufen worden war.

Es ist noch lange nicht aller Tage abend. Und in der GVK, in der ich bis Mai 1993 gesessen habe ...

? Sie sind demonstrativ ausgetreten ... ...in der GVK haben Gedanken aus den Entwürfen des Kuratoriums und des Runden Tisches doch eine große Rolle gespielt. Und zum Teil auch Mehrheiten bekommen, also z. B. die Möglichkeit der Volksabstimmung auf Bundesebene. Es fehlte eben nur durch die Sperrminorität der CDU die Zweidrittelmehrheit, die man gebraucht hätte. Aber gerade derzeit, in der Woche der Bürgergesellschaft, ist ersichtlich, wie diese Gedanken alle noch lebendig sind und wieder sehr engagiert diskutiert werden.

? Ihr Urteil zum Jubilar Grundgesetz?

Es enthält zwei unaufgebbare Dinge: Zum einen den schönen Artikel 1, wo die Deutschen definiert sind dadurch, daß sie sich zu unveräußerlichen Menschenrechten bekennen - eine sehr gute Definition unserer Identität -, und der Grundrechtsteil als Basis der gesamten Verfassung. Das zweite wäre der föderale Charakter unserer Staatsordnung.

Freilich, bestimmte Probleme verlangen noch einer Regelung, so die Frage Staat und Kirche, die nur vorläufig geregelt ist. Der Eigentumsartikel 14 bedürfte einer Präzisierung - etwa in dem Sinne, wie das die Weimarer Reichsverfassung sehr vortrefflich tut. Sie wies darauf hin, daß z. B. Grund und Boden und Bodenschätze nur bedingt handelbar sein können. Auch das Selbstbestimmupgsrecht der Frau müßte klarer formuliert sein. Weiter wäre mir daran gelegen, daß das Recht auf informationeile Selbstbestimmung unter den Grundrechten auftauchte und natürlich die Möglichkeit von Volksabstimmung auf Bundesebene, die ja im Keim im Artikel 20 enthalten ist.

? Die Beteiligung am NATO-Krieg bricht das Grundgesetz. Was kann der verfassungstreue Bürger da tun?

Wenn er männlichen Wesens ist, sollte er auf jeden Fall den Dienst mit der Waffe verweigern. Und alle anderen Bürger sollten die Regierung und das Parlament darauf aufmerksam machen, daß es bei diesem Widerspruch nicht bleiben kann. Entweder ändert man die Verfassung und bekennt sich wieder zum traditionellen Kriegsrecht, was ein Rückschritt wäre, oder man nimmt die Verfassung ernst. Aber dann müssen wir die Politik ändern, die zur Zeit gemacht wird.

Interview: Karlen Vesper

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