»Wenn du es nicht erfühlst«

Im Kino: »Messner«. Philosophie und Abenteuer

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Ziemlich am Ende des Films kommt der Kailash in Sicht, der tibetische Heilige Berg. Reinhold Messner hat darauf verzichtet, ihn zu besteigen. »Ich bin ja nicht Milarepa, der Dichter, der auf Sonnenstrahlen hinaufglitt und also den Berg nicht berührte.« Menschen des fernen Ostens würden nie auf die Gipfel steigen; jene Einheit von Geist und Materie, Denken und Tun, Weg und Ziel, Fantasie und Realität, die sie meditativ herstellen, braucht keine Ortsveränderung, keine Flucht irgendwo hinauf und hinaus. Sie sind eins mit sich und der Welt.

Der Filmschluss, Finale eines bildkräftigen, berührenden Porträts vom größten Abenteurer dieser Zeit, gehört dem Philosophen Messner - der freilich zu kurz kommt während dieses bedrängenden Werkes aus Extrem und Expressivität.

Lhagyelo: Die Götter siegen. So sagen die Tibeter, und sie meinen: Was da kommen muss, es kommt. Des Menschen einzige Chance heißt angesichts dessen: Gelassenheit, sie liegt im Vertrauen in die Kreisläufe der Natur, nicht in unnatürlicher Herausforderung derselben. Von daher weiß der Italiener Reinhold Messner, dass der zehrende Gang auf die Berge problematisch ist, ein »Kulturprodukt« westlicher Prägung.

Messner läuft vor dieser Tatsache nicht weg. Er läuft einfach nur. Er steigt nicht aus. Er steigt einfach nur. Einfach »nur«: Das ist sie, die ganz große Kunst. »Ich fliehe nicht vor der Lächerlichkeit des Daseins, ich gehe auf sie zu.« Über dreitausend Bergfahrten sind daraus geworden. Der Ausgangspunkt: Pitzack im Villnöß-Tal, Südtirol. Klobige Bergbuckel. Weite Höhen. Tiefe Täler. Immer im Blick: Viele hundert Dolomitendome, die eine unbändige Kraft vor Jahrmillionen emporstemmte. Stolz und demütig zugleich sind Bauernhöfe an die Hänge gesetzt - gebaut aus Vertrauen in Sonne, Wind, Regen; nur wer mit den Gewalten dieser Berge umzugehen weiß, findet mit ihnen sein Auskommen.

Hier lebten die Messners, eine Lehrersfamilie, neun Kinder. Etwa mit fünf interessiert sich der 1944 geborene Reinhold dafür, »wohin die Wolken verschwinden«. Damit ist das Prüffeld seines Lebens benannt: Wo harte Bauernarbeit den Blick aller zu Boden zwingt, dort stellt sich rasch ins Abseits, wer mit hochfliegenden Träumen auf Gipfel zieht. Und dann ist es eines Tages ein winziger Schritt von der spöttischen Bemerkung der anderen, Messner benehme sich mit seiner Bergsucht wie ein Urlauber, bis zur unumstößlichen Selbsterkenntnis des Belächelten, nurmehr als Fremder im eigenen Land zu gelten. Aus dem studierten Landvermesser und Mittelschullehrer wird der Abenteurer, der sich dem Spiel in wilder Natur verschreibt.

»Messner« heißt der Film von Andreas Nickel. Klingt fest wie ein Schritt, hart wie ein Brocken Fels. Messner. Ein Begriff eben. Der Begriff lebt ein wahnwitziges Leben, das Wort »Widerstand« kommt früh vor in diesem Film, ein Wort schon aus sehr jungen Jahren. Zum Widerstand reizt viel: der Vater, die Kirche, jede Wand. Nickel verknüpft seine fesselnden Dokumentaraufnahmen mit gespielten Szenen, die etwas ungelenk wirken und den Film ein wenig herabziehen aus jenen grandiosen Höhen und Schluchten und Steiglinien - die nur Kopfschütteln hervorrufen. Warum nur den Tod herausfordern? Wo sind die Saugnäpfe an den Fingern, um sich an den Senkrechten zu halten? Wieso freiwillig in Einsamkeitsnächte aus Eis, Sturm, oben Grauen, unten Grauen?

Dem Eroberungsbergsteigen hat Messner seinen Verzichtsalpinismus entgegengesetzt. Er wurde der erste Mensch, der alle vierzehn Himalaya-Gipfel über 8000 Meter bestieg. Er ging auf den jeweils höchsten Gipfel aller Kontinente. Den Mount Everest bezwang er als Erster ohne Sauerstoffmaske und danach noch im Alleingang. Als Erster durchstieg er die viereinhalbtausend Meter hohe Rupal-Flanke des Nanga Parbat, am gleichen Berg überschritt er als Erster einen Achttausender. Er durchquerte Grönland längs, die Antarktis quer, er wanderte durch die Wüste Gobi. Er ist im Alpenstil geklettert, ohne Vorgaben also, ohne fremde Hilfe. Er hat den Alleingang kultiviert. Er kam immer ohne Sauerstoff in der Flasche aus, auch beim Rasten und Schlafen in wahnsinnsfördernder Höhe. Auf Stiegen zu den sichtbaren Enden der Welt hat er die unsichtbaren Enden in sich selbst auszuloten versucht. Ist immer wieder angekommen an neuen Türen ins Ungewisse.

Er blieb umstritten wie alles Extreme. Er lebt aus sich heraus, er lebt sich aus, er lebt gut. Er kennt die Häme, und er genießt die Hochrufe. Er überstand Todesgefahren, sein Instinkt ist sein Reichtum. Er verlor am Nanga Parbat seinen Bruder Günter und am Manaslu zwei Freunde. Der Film zeigt Archivaufnahmen aus Basislagern und Anstiegen; drei Brüder Messners kommen zu Wort, alle Akademiker - bezwingend, empfindensstark erzählen sie vom ehrgeizigen, besessenen Reinhold, der eines Tages das bergsteigerische Solo als wichtigste Konsequenz seiner Wesensart zog. Sie kann sehr wahr, sehr rücksichtsvoll gegen alle anderen sein, diese Philosophie: Der Stärkste ist am mächtigsten allein - allein auch mit allen Risiken, allem nötigen Egoismus. Der kein Gegensatz ist zu gegenseitiger Hilfe, aber absoluter Gegensatz zu heuchlerischer, ideologiebesoffener »Bergkameradschaft«.

Messners Kunst zu überleben setzte ihn Geiferern aus, die ihn schuldig schrien. Er hat in Tragödien wichtige Punkte seines Lebens erkannt; immer wieder setzt er sich seither mit jenen Linien in Berührung, die aus menschlicher Existenz hinausführen könnten. Er machte ein Wort zum Beruf aus Berufung: Grenzgänger. Die Vorläufigkeit, das Fragmentarische des Daseins bilden ihm das Fundament. Ein Individualist, »vielleicht sogar Autist« (Messner) - das Gängertum als Kunstwerk, als Regiearbeit einzig im Ich-Dienst, einem hemmungslosen, rücksichtsarmen, selbstberauschten Dienst. Ganz im Geiste Nietzsches: »Die überschüssige Kraft in der Geistigkeit« suchend, »sich selbst neue Ziele stellend; durchaus nicht nur für die Erhaltung des Organismus.«

Man schaut in diesen Film wie ins letztlich Unerklärliche. Messner strahlt etwas aus, das sich jeder Definition entzieht. Nie ist ihm, im Grunde, der Gipfel das, was dort oben im gefahrvollen Dunst liegt - nein, der Gipfel, wohin der Sisyphus-Stein zu rollen ist, der »liegt in dir selbst, durchsteig also die Leere«, die steinernen Schwellen im Innern. Immer dem Stein nach, hatten die Träume ihm gesagt, so fand er sich selbst, verstiegen ins Bodenlose, am Ende frei, aber mehr denn je beladen mit sich selbst. Der Satz von Camus, man müsse sich Sisyphus als einen glücklichen Menschen vorstellen, ist dem Film das Motto.

Talent ist Trieb, ist ein Defekt, der nach Bestätigung sucht. Ist im Falle des Bergsteigens eine Höchstform der Selbststeigerung, die den Tod dort überlistet, wo er einem am nächsten kommt. Der Weg ist die Quelle der Euphorie, und nicht der Moment ganz oben in Eis und in Einsamkeit, in jenem Unlebbaren, wo man »sich meist nur fühlt wie ein ganz armer Hund«. Glücklich macht nicht, dass man etwas überstanden hat. Vorhin. Glück stellt sich ein, indem man etwas überstehen muss. Jetzt. Es ist immer zugleich der Moment, da das Glück am weitesten entfernt ist. Paradox. Unbegreiflich. Goethes Faust sagte es so: »Wenn du es nicht erfühlst, du wirst es nicht erjagen.«

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