Starkes Solo am Schlachtzeug
Shakespeares »Richard III.« am Schauspiel Bochum
Ideen einer Regie stehen oft vor der Frage: Sollen sie dem Text dienen oder dem Theater? Je nach Entscheidung stürmt der unerwartete Aufriss die Bühne, oder ein traditionsbewusstes Wiederhörensfest spult sich ab. Die Repertoire-Renner haben's am schwersten, die Klassiker des Spielplans, die ewig diensthabenden Stücke. Wie etwa Shakespeares »Richard III.«. Aufgerufen andauernd, landauf, landab. Hilmar Thate hat den Mörder-King vor vier Jahrzehnten zu einem gedrungenen, gaumig die eigene Grauenhaftigkeit abschmeckenden Kumpel des Publikums erhoben (Regie: Manfred Wekwerth, Deutsches Theater); Gert Voss verwandelte sich in einen geschmeidigen, grinsend dämonischen Turner des Terrors (Regie: Claus Peymann, Wiener Burg); Paul Mankers bot einen plump-koboldigen Kindertheaterböskopf (Regie: Peter Zadek, Wiener Festwochen); Thomas Thieme schnodderte, röchelte, stotterte ein ins Raubtierische verdämmernden Gegenwartsteufel hin (Regie: Luk Perceval, Salzburger Festspiel). Unvergessliche des ästhetischen Grundgesetzes: Das Böse funkelt am schönsten, flammt am hellsten.
Paul Herwig hat keinen Buckel. Er hinkt nicht, ist nicht gezeichnet. Er muss nicht gemieden werden. Ihm läuft keine Mordlustspucke von den Lefzen. Herwig ist fast schüchtern, neigt zum staunend offenen Mund. Er ähnelt einem Buchhalter, dem nie der Gedanke käme, Kafka zu werden. Er ist tollkühn langweilig, aufreizend bieder. Paul Herwig ist ein ganz großer Richard III.
Roger Vontobel, einer der sinntollsten Regisseure der jüngeren Generation, ein intelligenter Aufbürster erhabener Schauspiele (»Jungfrau von Orleans« in Wien, »Don Carlos« in Dresden, »Penthesilea« in Hamburg), hat »Richard III.« in Bochum inszeniert. Und er hat diesen in seiner Graumäusigkeit geradezu fläzenden, nach Unauffälligkeit gleichsam gierenden Sonntagsanszugshänfling Richard zum schwitzenden Zufallsmittelpunkt einer Familiengeschichte gemacht, die das Stück um den Familienkrieg zwischen den Yorks und Lancaster erweitert. Quasi »Heinrich VI« und »Richard III.« an einem Abend, in vier kurzen Stunden. Spannend. Grausam hierarchiebesessen alle. Ekelhaft atmsophärenkalt die Welt. Und verteufelt unübersichtlich, wer in der Thronfolge jeweils dran wäre. Übersicht kommt nur durch eines zustande: Es herrscht, wer mordet - bis auch er stirbt. Königsmörder, Mörderkönige. Richard sieht, lernt, handelt, tötet.
Zu Beginn ist die Bühne von Magda Villi eine dreireihige Klappsitzlandschaft; Kino, Theater, Vorstadtniveau. Pappbecher, Aktentaschen und rote Umhänge liegen herum - als warteten die auf die angstzitternden Schultern des nächsten Königs. Warten, Brüten. Stiller Unheilsprolog.
Dann öffnet sich die Bühne, ein Festsaal. Ständiges Gerenne von Dunkelmännern. An den Wänden links und rechts auf wild verrissenen Videos das Draußen: der Tower, die Morde, die Komplotte. Auch der Zuschauerraum ist Anlaufgelände fürs Erstürmen der Bühne. Und eine Eisenleiter geht in den Rang. Der ist quasi Feldherrenhügel für Richards Feinde.
Ein bestechendes Schauspieler-Ereignis. Felix Rech als Richards Bruder Eduard, der König vor ihm: hochaufgeschossener Draufgängercharme; unglaublich der Moment jenes Mordes, der ihm den Thron frei macht: wie Augen verglasen, wie Entsetzen grell blass aus Poren dringt, wie alles Blut aus seinem Gesicht flieht, als hätte es selber Angst, gleich ausfließen zu müssen. Ergreifend Jutta Wachowiak: Sie ist Richards Mutter, ein abendlanges nervwundes Beben zwischen ahnungsvoller Angst und verdrängender Beherrschtheit; wenn sie ihre Fluchrede gegen den Sohn schleudert, steigt die Klage aller Mütter auf, und zugleich tötet diese Frau, Wort um Wort, alles Mütterliche in sich ab.
Und Jana Schulz! Sie wird mehr und mehr zu einer der stärksten Schauspielerinnen des Landes. Vontobel hat ihre Margaret zur Gegenspielerin von Richard etabliert: Stolzverletzte, Rächerin, Kriegsherrin, nächste Königin - schön, herb, sehnig, expressiv, des Teufels Generalin, rasend, klirrend, so zart wie körperwuchtig.
Richard selbst verlässt seinen Anzug nie. Zieht sein Blutding durch, dessen Sinn er nie nachspürte. Richard, bevor er räudig stirbt, heruntergezerrt vom Wiedergänger-Pulk seiner Mordopfer, sitzt in ferner Bühnenecke am Schlagzeug. Eine Wahnsinns-Passage: Herwig als Drummer. Minutenlang. Da trommelt einer auf sich ein, als peitschte er sich. Hoch? Nieder? Das Schlagzeug: Schlacht-zeug. Man ist zu Dröhnen gerührt.
Einleuchtend zu sehen in Bochum: Wer immer die Welt schuf, er hatte nicht den Mut, dem Menschen die schlimme Wahrheit über dessen Existenz zu sagen - also schuf er Shakespeare.
Nächste Vorstellung: 27. Oktober
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