Mackie M. und Meister F.
Vor zwanzig Jahren starb der große Schauspieler Wolf Kaiser
Seltsam, dass wir mit Schauspielern unversöhnlicher aufwachsen als mit jedem Künstler anderer Gattungen (Musiker vielleicht ausgenommen). Unversöhnlich, das meint: Wir lassen uns die Erinnerung nicht antasten, wir bestehen auf fortdauernde Eindrücklichkeit - wir verweigern uns den Wertekorrekturen der Zeit. Die ersten Filme, die ersten Theatererlebnisse: Manifeste der Entschlossenheit, etwas nicht aufzugeben, etwas als unvergänglich zu behaupten, gegen alle Halbwertzeit. Wir sind Bestandsaktivisten, ersehnen Unumstößlichkeit dessen, was unserem Leben günstig ist.
Wolf Kaiser zum Beispiel. Er war zwischen 1950 und 1967 einer der beliebtesten Schauspieler des Berliner Ensembles von Bertolt Brecht und Helene Weigel. Unvergessen auch sein glatter, elegant schuftiger Jachmann in Hans-Joachim Kasprziks TV-Ereignis »Kleiner Mann - was nun?« Dieser tolle Kerl Kaiser - königsgleich, verführerisch, schlitzohrig, Kraftnatur - wusste sich hoch gemocht, und er hatte die Statur dafür. Die erste Hauptrolle verkörperte er 1956 als Heiratsschwindler Maurice Daurignac im DEFA-Film »Die Millionen der Yvette«. Der Feldprediger im »Courage«-Film, der Schinderhannes in »Thomas Müntzer«, an der Volksbühne später (neben Angelica Domröse) der Caesar in »Caesar und Cleopatra«, dann sein Spiel in Egon Günthers mystisch-derbem Film »Ursula« - Kaiser gab den Proletariern römisches Senatorenprofil, den Offizieren, die er spielte, eine fies um sich protzende Verschlagenheit, den Zwielichtigen einen reizvollen Schatten, den strahlend Produktiven etwas listig Unzüchtiges. Seine gravitätische Eitelkeit besaß Stil, weil sie einem Sinn verpflichtet war, und sie hatte auch dann noch Stil, wenn dieser Sinn »nur« die eigene Erscheinungsart war. Und diese Eitelkeit glich auch einem Selbstschutz: Attacken ganz aus Männlichkeit sind oft reine Verteidigungsschlachten, zu der sich die Unsicherheit aufrafft, um unerkannt zu bleiben.
Kaiser, 1916 in der Schweiz geboren, war der Mackie Messer der DDR und ihr Meister Falk (in Benito Wogatzkis Adlershofer Mehrteiler, der seinerzeit die Straßen fegte wie im Westen Dur-bridge-Krimis; auch dies ein bedenkenswertes Stück DDR-Wahrheit). Nur wer diesen Künstler Kaiser nicht begriff, nannte beide Rollen, den Mackie und den Meister, einen unbegreifbaren Widerspruch. Es war aber keiner, es war Aufgehobenheit in einer Hoffnung: die eindeutigen Helden von heute seien andere als die zwielichtigen Helden von gestern, und zu zeigen seien beide so, dass fröhliche Einsicht in die Veränderbarkeit der Welt wächst.
Dass es in seinen letzten Jahren still wurde um den Extra-Vaganten Kaiser, hat sein Grabredner Eberhard Esche sehr berührend ins Positivum umgewandelt: »Als Künstler existent blieb Wolf in immer zunehmendem Maße nur im Erinnerungsvermögen des Publikums. Nur? Dieses Vermögen ist ein gewaltiges Potenzial, denn es wird von Glaube, Liebe und Hoffen getragen.«
Heute vor zwanzig Jahren sprang Wolf Kaiser aus dem Fenster seiner Wohnung in der Berliner Friedrichstraße. Still, gefasst. Sprang in den Tod. Selbstmord, schrieben die Zeitungen. Selbstmord? Wolf Kaiser mordete sich nicht. Er nahm sich das Leben - nahm es her zu sich, in einer Welt, die ihm so Wichtiges wegnahm.
Das Gefühl etwa, in einem wunderbaren, schwierigen, zehrenden Beruf leistungsfähig zu sein, ihn ausüben zu dürfen ohne Beißübungen für einen gierigen Markt. Wichtig auch das Gefühl, mit dem Brecht-Theater am Berliner Ensemble einem international anerkannten Maßstab zu dienen. Die schönste Vorstellung bei all den Vorstellungen, die er allabendlich spielte: am Staat gewordenen Versuch einer neuen Ordnung beteiligt zu sein; am BE in gleicher Augenhöhe mit einem geliebten, liebenden Publikum zu wirken.
Wolf Kaiser hat dem, was Viele nach 1989 einen gesellschaftlichen Qualitätssprung nannten, die böse, bittere, traurige, verzweifelte, aber doch letztlich sehr stolze und selbstbewusste Qualität seines letzten einsamen Sprungs entgegengesetzt. Das menschenunfreundliche Reale durchschaut zu haben und trotzdem am Leben zu bleiben - diese härteste aller Künste noch spät zu lernen, das hat Kaiser am Abend vor zwanzig Jahren abgelehnt.
Erst im Todesbewusstsein offenbart sich das Leben als Wunder? So viel Weltniveau jedenfalls, um für das niedere Niveau der nun heraufkommenden Welt unverkäuflich zu bleiben, war Wolf Kaiser sich selber schuldig.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.