Archaisch, also: sehr akut
Hauptmanns Gegenwart
Der Gottesfürchtige, der auch ein Gesetzesgläubiger ist, wird erschossen. Es ist da nur ein unmerkliches Sinken des Kopfes, als sei jemand von einer traurigen Einsicht getroffen. Schuss, aus, Politik nimmt ihre endgültige Gestalt an: Herrschaft durch Härte.
So endet Michael Thalheimers Inszenierung »Die Weber« am Deutschen Theater Berlin. Just dieser Regisseur hat in den letzten Jahren Gerhart Hauptmanns dramatisches Werk zu einem Leben erweckt, bei dem niemand auf die Idee käme, dafür das Wort vom Naturalismus zu erfinden. Neben den »Webern« am DT »Einsame Menschen«, »Die Ratten« und am Hamburger Thalia Theater »Rose Bernd« - Thalheimer zeigt alte verkrümmte, schreiend verquere Existenzweisen, Isolationen, die aufeinander losgehen. Aber nichts davon lässt sich mit jenem Genuss erleben, den man nur hat, wenn man weiß, dass man etwas hinter sich hat. Welch ein Reiz etwa, wenn man überholte Stadien moralischer Enge mit dem libertinistischen Gewürz von heute aufkocht und also sieht, wie herrlich frei man doch inzwischen ist.
In diese brave Hauptmann-Möglichkeit sprengte Thalheimer hinein und wurde - nach DDR-dunklen, weil agonie-dämonischen Psycho-Feinzeichnungen eines Thomas Langhoff am Berliner Gorki-Theater und in München - zum wichtigsten Inszenator des Dichters in neuerer Zeit. Die Freundlichkeit zeigt uns bei Thalheimer, wie es kam, dass sie einfach nicht mehr kann. Der pure Schmerz sagt uns in nackter Offenheit, was alles ihm zur Schönheit fehlt. Und der Aufstand: die archaische wie zeitlos zukünftige Ausdrucksform würdeberechtigter Menschen (freilich: dafür erschossen zu werden, ist von solcher Wahrheit nicht auszunehmen).
Die aufreizende Gewissenhaftigkeit Thalheimers offenbart sich in der radikalen Künstlichkeit seiner Wund-Prozessionen. Für ihn ist die Härte im bloßen Wiedergeben des natürlich sich anbietenden Materials der Wirklichkeit nicht zu erreichen: Dass unsere Erfahrung uns fremd gegenüber trete und so kenntlich werde als Bürde - es geht nicht ohne Groteske, nicht ohne griechisch anmutende Choreografie, nicht ohne krasse Statuarik.
Mit Hauptmann verbunden ist auch eine der grandiosesten Inszenierungen Frank Castorfs: »Die Weber«. Dem Plakatschrei der armen Schlesier, »HUNGER!«, musste nur ein einziger Buchstabe herausfallen, und »UNGER!«, der Name des Reisebüros, wurde zum neudeutschen Revolutionsziel nach dem Herbst 1989. Ein bitter ironiefunkelndes Panoptikum der Arbeiterbewegung, es war, als habe man Kafka zwischen Ernst Busch und Karl Valentin gespannt, gefilmt das alles von Tarantino.
Castorfs Frühgenius und Thalheimers Schmerz-Messen: Die Toten sind von den Lebenden nicht zu unterscheiden. Das ist seit jeher der beste Beweis dafür, dass ein Werk in voller Existenz steht.
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