• Kultur
  • Bücher zum Verschenken

Östliches, Westliches

David Mitchell führt nach Japan Anfang des 19. Jahrhunderts

  • Reiner Oschmann
  • Lesedauer: 3 Min.

Ein neuer, großartiger Roman des 43-jährigen Engländers David Mitchell: Er spielt auf dem winzigen niederländischen Insel-Handelsposten Dejima, an der Küste des japanischen Nagasaki zur Zeit Napoleons, am Beginn des 19. Jahrhunderts. Die industrielle Revolution musste sich erst entfalten, und Nagasaki blieben noch anderthalb Jahrhunderte bis zur Apokalypse von US-Amerikas Gnaden.

Japan ist zu der Zeit eine feudale, hermetisch geschlossene Insel. »Verschließung ist Japans Schutz vor der Außenwelt. Dieses Land will nicht verstanden werden«, sagt Jacob de Zoet, niederländischer Pastorensohn, den es als Buchhalter nach Dejima verschlagen hat. Dafür bietet Edo, heute Tokio und damals Sitz der Militärregierung, »ein nie endendes Getöse aus klappernden Holzpantoffeln, ratternden Webstühlen, Geschrei, Hundegebell, Rufen und Flüstern. Edo ist eine Ansammlung aller menschlichen Bedürfnisse und ist zugleich die Möglichkeit, sie alle zu befriedigen.« Diese Skizze ist auch Muster von Mitchells Stil, der einem mehr als einmal vollkommen, kaum steigerungsfähig erscheint. Er schreibt Sätze wie: »Die Musik ist spinnwebzart, sternenhell und wie aus Glas geblasen.« Und solche wie: »Möwen gleiten durch Speichen aus Sonnenlicht, über Dächer aus feinen Ziegeln und schäbigem Stroh, schnappen sich auf dem Marktplatz Innereien und fliehen über verborgene Gärten, bewehrte Mauern und dreifach verriegelte Türen.«

Die Handelsstation Dejima, dieser Außenposten Europas, ist Schauplatz des Kampfes der Kulturen - und Jacob de Zoet mit hellem Geist und wachem Rechtsgefühl seine zentrale Figur. Lebhaft an der fremden Sprache und Kultur interessiert, wird er von raubeinigen, raffgierigen Landsleuten ausgenutzt, von der japanischen Hierarchie mit Neugier, Angst und Argwohn beäugt - während er selbst, scheu und distanziert, in die japanische Hebamme Orito verliebt ist. Diese gerät ihrerseits in das Räderwerk eines so geheimnisvollen wie bestialischen Schreins, wo Mönche »Gabenspender« sind und Nonnen an »Gabentagen« zwangsbefruchten, ehe diesen ihre Kinder (»Gaben«) auf Nimmerwiedersehen entzogen und in die »untere Welt« gegeben werden ... So ist Dejima Ort von Glaubens-, Sitten- und Denkkonflikten, in denen sich Menschen gegeneinander abgrenzen, um ihre eigene Identität zu stabilisieren, an denen Feinfühligere mehr leiden, aber auch genauer erkennen, dass Rückzug aufs Anderssein manchmal weniger hilft als die Erkenntnis von Gemeinsamkeit.

Beides, Abstoßung und Anziehung, die Welt des Eigennutzes und die der Mitmenschlichkeit, vereint Mitchell, der mit einer Japanerin verheiratet ist, zu einer verstörenden wie betörenden, irisierenden wie faszinierend menschlichen Komödie. Zu einem düsteren wie zuversichtlichen, einem aufwühlenden Buch voll gemeiner Finsternis und tröstenden Lichts.

David Mitchell: Die tausend Herbste des Jacob de Zoet. Roman. A. d. Engl. v. Volker Oldenburg. Rowohlt. 715 S., geb., 19,95 €

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.