Biochemie im Wandel der Systeme
Vor 100 Jahren wurde der Arzt, Wissenschaftler und Kommunist Samuel Mitja Rapoport geboren
Sein Leben war wie ein Spiegel der Triumphe und Tragödien des 20. Jahrhunderts, die für ihn, den Wissenschaftler, Juden und Kommunisten, Erfolg und Ruhm, aber auch Bedrohung und Verfolgung bedeuteten. Schon in jungen Jahren musste Samuel Mitja Rapoport, der am 27. November 1912 als Sohn eines Kaufmanns im galizischen Woloczysk geboren wurde, die Erfahrung des Exils machen. Zunächst siedelte er mit seinen Eltern nach Odessa über, wo er als Kind die Wirren des Russischen Bürgerkriegs miterlebte. 1920 flüchtete die Familie aus der Ukraine und gelangte über Triest nach Wien. Hier besuchte Rapoport die Mittelschule und nahm 1930 ein Medizinstudium auf, das er 1936 mit der Promotion abschloss. Während dieser Zeit veröffentlichte er seine erste Forschungsarbeit, die sich mit der Bestimmung von Aminosäuren im Blutserum beschäftigte.
Wie in der Wissenschaft war Rapoport auch in der Politik hellwach und erkannte früh die Gefahr des über Österreich heraufziehenden Faschismus. Er schloss sich zunächst der Sozialdemokratischen und später der Kommunistischen Partei an, in deren Reihen er sich zeitlebens heimisch fühlte.
Durch die Vermittlung seines Lehrers Otto von Fürth erhielt Rapoport 1937 ein einjähriges Forschungsstipendium für das Cincinatti Children's Hospital in Ohio, das zu den führenden Kinderkrankenhäusern der USA zählte. Hier erfuhr er 1938 von Hitlers Einmarsch in Österreich und beschloss, in Cincinatti zu bleiben. Rapoport wurde amerikanischer Staatsbürger und hoffte als solcher, die USA nie wieder verlassen zu müssen. Zumal er dort auch seine zweite Frau kennen lernte - die 1938 aus Deutschland emigrierte Kinderärztin Ingeborg Syllm.
Als Wissenschaftler machte Rapoport vor allem durch seine Arbeiten über den Stoffwechsel der roten Blutkörperchen (Erythrozyten) von sich reden. Denn dank der hierbei gewonnenen Erkenntnisse konnte die Haltbarkeit von Blutkonserven von einer auf drei Wochen verlängert werden. Das rettete während des Zweiten Weltkriegs zahllosen verwundeten US-Soldaten das Leben. In Anerkennung dessen wurde Rapoport mit dem »Certificate of Merit« geehrt, dem höchsten militärischen Orden für Zivilisten in den USA. 1947 reiste er mit zwei Kollegen nach Japan, um dort die ruhrartige, oft tödlich endende Kinderkrankheit Ekiri zu erforschen. Die drei Mediziner erkannten rasch, dass der Erkrankung häufig Kalziummangel zugrunde lag - und entwickelten ein Verfahren, um Kinder durch die intravenöse Gabe von Kalzium vor einer Infektion zu schützen.
Als bekennender Kommunist geriet Rapoport 1950 ins Visier der US-Behörden, die ihn und seine Frau während eines Aufenthalts in Zürich per Telegramm aufforderten, vor dem McCarthy-Untersuchungsausschuss zu erscheinen. Nach Abwägung aller Risiken beschlossen die Rapoports, auch ihrer vier Kinder wegen, in Europa zu bleiben. Die Familie siedelte nach Wien über, wo Rapoport sich um eine Universitätsprofessur für Medizinische Chemie bewarb. Doch die US-Besatzungsmacht verhinderte dies. Und obwohl auch die Sowjetunion für den »Westemigranten« Rapoport keine Verwendung hatte, wurde dieser 1952 an die Berliner Humboldt-Universität berufen und zum Direktor des Instituts für Physiologische Chemie an der Charité ernannt. Seine Frau Ingeborg arbeitete in der DDR als Kinderärztin und legte später den Grundstein für das Fachgebiet der Neonatologie (Neugeborenenheilkunde). Für ihre Verdienste bei der Senkung der Säuglingssterblichkeit erhielt sie 1984 den Nationalpreis. Vor knapp drei Monaten feierte sie in Berlin ihren 100. Geburtstag.
Wie Zeitgenossen sich erinnern, war Rapoport, der amerikanische Professor mit dem österreichischen Zungenschlag, an der Humboldt-Universität von Anfang an eine Attraktion. Mehr als 300 Studenten strömten neugierig in seine Vorlesungen, aus denen später ein Lehrbuch für Medizinische Biochemie hervorging. Es erreichte bis 1987 neun Auflagen und wurde mehrfach übersetzt.
Neben den roten Blutkörperchen und deren Vorläuferzellen beschäftigte sich Rapoport in Berlin auch mit dem Abbau von Eiweißen. Dabei erkannte er, dass dieser Prozess energieabhängig ist. Das wurde in der Fachwelt zwar jahrelang bestritten, gilt heute aber als gesicherte Erkenntnis. »Rapoports Arbeiten verbinden in idealer Weise Grundlagenforschung und klinische Anwendung, er war sowohl medizinisch als auch naturwissenschaftlich absolut kompetent«, schreibt der Wiener Biochemiker Hans Goldenberg. In den 60er Jahren vermochte Rapoport sogar SED-Chef Walter Ulbricht von der Bedeutung der biochemischen Forschung für die Medizin und Landwirtschaft zu überzeugen. Doch ein 1971 gestartetes interdisziplinäres Großforschungsprojekt, das mehrere Institute und über 800 Wissenschaftler mit dem Ziel zusammenführte, nicht planbare Innovationen zu erbringen, wurde von Ulbrichts Nachfolger Erich Honecker wieder aufgegeben.
Auch nach seiner Emeritierung 1978 blieb Rapoport als Forscher aktiv und war bis 1987 Präsident der Gesellschaft für Experimentelle Medizin der DDR. Dass 1989 der reale Sozialismus so kläglich zusammenbrach, schmerzte ihn, und er tat in der Folge alles, um die Integration ostdeutscher Wissenschaftler in den gesamtdeutschen Forschungsbetrieb zu fördern. Von 1993 bis 1998 war Rapoport überdies Präsident der von ehemaligen DDR-Akademiemitgliedern gegründeten Leibniz-Sozietät. Er starb am 7. Juli 2004 in Berlin.
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