Rat an die Lehrer
Schüler haben viele Ideen, wie Gewaltprävention aussehen könnte
Komasaufen, Cybermobbing, Gewaltexzesse: Über Probleme, die Jugendliche verursachen, wird viel diskutiert - allerdings nur selten mit ihnen. Dabei haben sie offenbar ganz genaue Vorstellungen, was man dagegen tun könnte. Das ist jedenfalls die Erfahrung einer Gruppe Kriminologen aus Münster, die über 2000 Jugendliche zwischen 14 und 16 Jahren gefragt haben: »Wenn du Lehrer wärst, was würdest du tun, um Gewalt zu vermindern?« Sie waren erstaunt, wie groß die Bandbreite der Ideen war, die ihnen die Schüler anboten.
Vor allem raten sie zur Aufklärung über die Folgen von Gewalt - für den Täter, aber auch für das Opfer. Als Lehrer würden Schüler zudem vermitteln, wie man Konflikte ohne Fäuste lösen kann. Auch der Gedanke von Mediation scheint den im Schnitt 15-Jährigen nicht fremd: So würden sie bei Konflikten alle Beteiligten an einen Tisch setzen und über das Problem reden, konnten die Wissenschaftler in der einen oder anderen Variante immer wieder lesen.
»Die Selbstauskünfte liefern keine harten Fakten, aber eine Vorstellung über die Wahrnehmung der Jugendlichen und über ihre Ansprechbarkeit für bestimmte Maßnahmen«, erläutert Thomas Görgens. Der Professor für Kriminologie an der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster gehört mit seinem Team einer europäischen Projektgruppe YouPrev an, die in sechs Ländern Europas Jugendkriminalität untersucht. In Deutschland konzentrierten sich die Befragungen auf den Großraum Münster. Die 300 000-Einwohner-Stadt ist aus Sicht der Forscher typisch für die zahlreichen mittleren Städte in Deutschland. Zwischenergebnisse wurden nun auf einer Tagung bei Berlin der Fachöffentlichkeit vorgestellt. Der Abschlussbericht soll Ende Februar fertig sein.
Das Besondere an der Studie ist, dass sie nicht nur Daten zu jugendlichen Tätern und Opfern erhebt, sondern auch die Erfahrungen mit bisherigen Präventionsmaßnahmen abfragt. Demnach finden Jugendliche alles gut, was sich direkt ihrer Lage zuwendet. Bestrafung als Mittel, Gewalttaten zu verhindern, schneidet dagegen in Relation zu anderen Reaktionsmöglichkeiten schlecht ab, bei Schülern wie bei den ebenfalls im Rahmen der Studie befragten Experten aus Schule, Justiz, Wissenschaft. Sie äußern sich skeptisch gegenüber härteren Strafen und beobachten die Tendenz der letzten Jahre zur Verschärfung des Jugendstrafrechts mit Sorgen. Mit einer Ausnahme: Wenn eine Sanktion pädagogisch begleitet zeitnah stattfindet. Das ist in der Praxis aber meist nicht der Fall.
Hinsichtlich Art und Umfang von jugendlicher Delinquenz bestätigt die Studie frühere Befunde. Demnach ist Ladendiebstahl die mit Abstand häufigste Form. Und geklaut wird von Jungen und Mädchen gleichermaßen. Ansonsten ist Jugendkriminalität Jungensache - sie fallen beispielsweise oft durch Vandalismus auf. Körperverletzungen, die medial die größte Aufmerksamkeit bekommen, sind dagegen »relativ selten«, wie die Forscher betonten. Schwere und einfache Formen machen zusammen nur drei Prozent aller Delikte aus. »Das mediale Bild der marodierenden Jugendbanden, die überall lauern würden, entspricht nicht der Realität«, so Wissenschaftlerin Anabel Taefi. Es sind wenige Mehrfachtäter, die fast alle Gewaltdelikte begehen.
Experten beschreiben Jugenddelinquenz nüchtern: Sie gehen davon aus, dass Gesetzesübertretungen im Jugendalter zwar weit verbreitet, aber meist wenig gravierend sind und überwiegend eine Episode bleiben. Sie verfestigen sich nur selten zu kriminellen Karrieren. In der Polizeilichen Kriminalstatistik sinkt die Zahl der Tatverdächtigen seit ein paar Jahren, nicht nur quantitativ, sondern auch in der Schwere der Tat.
Wenig aufgeregt werden auch die neuen Formen von Kriminalität wie das illegale Download betrachtet: Die neuen Technologien machen die Jugendlichen nicht krimineller, erklären die Münsteraner Kriminologen, es ändern sich aber die Erscheinungsformen. So habe es Mobbing und Urheberrechtsverletzungen immer gegeben, sie haben sich nun jedoch ins Internet verlagert.
Die Studie will nicht nur herausfinden, welche Maßnahmen präventiv wirken, sondern auch, welche Personen und Institutionen Einfluss auf die Jugendlichen haben. Ein Befund ist dabei: Am wichtigsten für ihr Handeln sind die Eltern und, noch viel stärker, die Freunde. Lehrer haben nach Meinung der Schüler dagegen kaum Einfluss. Möglicherweise sagt das weniger über ihre Grundeinstellung, als über ihre bisherigen Lehrer aus. Präventionsansätze kommen jedenfalls an der Schule nicht vorbei, verbringen die Jugendlichen doch dort mindestens die Hälfte des Tages.
Daneben setzen Jugendexperten der Studie zufolge auf die Zusammenarbeit verschiedener Institutionen, die frühzeitig intervenieren, sowie auf die Stärkung der sozialen Kompetenzen von Jugendlichen. Auch Eltern sollen stärker einbezogen werden. Und nicht zuletzt heben sie die kriminalitätspräventive Wirkung von Bildungsinklusion und geringer sozialer Ungleichheit hervor. »Die beste Kriminalpolitik ist und bleibt eine gute Sozialpolitik«, hat der bedeutende Strafrechtler Franz von Liszt vor über hundert Jahren postuliert. Davon ist die Fachwelt bis heute überzeugt.
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