Karte des Urknalls und das Higgs-Teilchen

Fachjournale sehen für Forschung andere Schwerpunkte als EU-Förderprogramme

  • Steffen Schmidt
  • Lesedauer: 4 Min.

Deutsche Astronomen können sich freuen: Noch vor Weihnachten war die Startfinanzierung für ihre Beteiligung am bislang größten Radioteleskop gesichert, dem »Square Kilometer Array«, einer Anordnung von zig kleineren Einzelantennen, die in Südafrika und Australien errichtet werden und ab 2019 Daten liefern sollen. Angesichts der prekären Finanzlage der meisten EU-Staaten und der USA darf man gespannt sein, ob es allen wissenschaftlichen Vorhaben ähnlich gut ergehen wird. Immerhin soll noch in diesem Monat über ein Zwei-Milliarden-Euro-Programm für zwei gesamteuropäische Leuchtturmprojekte entschieden werden. Die Liste der sechs Forschungsgebiete in der Endrunde dürfte allerdings eher den in der Vergangenheit formulierten Interessen der europäischen Industrie entsprechen als den inneren Entwicklungen der Forschung. Unter den Favoriten befindet sich die Computermodellierung gesellschaftlicher Zusammenhänge im globalen Maßstab bzw. des menschlichen Hirns, der erhoffte Zukunftswerkstoff Graphen, Sensoren zur kontinuierlichen Messung des Gesundheitszustands, Modelle für die personalisierte Medizin und von der Biologie inspirierte Roboter. Im britischen Fachjournal »Nature« kritisiert die Vizepräsidentin der finnischen Akademie der Wissenschaften, dass ein solches themenorientiertes Förderprogramm nicht geeignet sei, wirklich neue Technologien hervorzubringen.

Die beiden führenden Wissenschaftszeitschriften »Science« und »Nature« jedenfalls haben andere Themen auf ihrer Liste der vielversprechendsten Forschungen für 2013. So erwarten beide von den vor einem Jahr abgeschlossenen Himmelsbeobachtungen des 2009 gestarteten europäischen Weltraumteleskops »Planck« im neuen Jahr die bisher genaueste Karte des Universums kurz nach dem Urknall, sodass bisherige Theorien über die Entstehung des Alls überprüft werden können. Das könnte nach Ansicht der »Nature«-Redakteure auch der 2012 in der Sanford Underground Research Facility in Lead (US-Bundesstaat South Dakota) fertiggestellte LUX-Detektor tun, der nach widersprüchlichen Beobachtungen im Kosmos endlich Klarheit über die mysteriöse Dunkle Materie schaffen soll.

Überhaupt scheint es, als ob die einstigen Leitwissenschaften Physik und Astronomie ihren Nachfolgern Biochemie, Genetik und Neurowissenschaften den Platz an der Spitze nicht kampflos preisgeben. Zwar sind die Biowissenschaften in der »Science«-Liste der im neuen Jahr zu beobachtenden Forschungsfelder ebenso in der Überzahl wie bei »Nature«, doch ebenso einhellig kürten beide Zeitschriften für 2012 eine physikalische Leistung zum »Durchbruch des Jahres«: die wahrscheinliche Entdeckung des »Higgs«-Teilchens am Europäischen Kernforschungszentrum CERN in Genf. Das vor mehr als 40 Jahren postulierte Elementarteilchen komplettiert das sogenannte Standardmodell der Teilchenphysik, indem es den übrigen Teilchen Masse verleiht. Und noch weitere Physik-Leistungen kamen auf die »Science«-Hitliste. So etwa ein chinesisches Experiment zur Umwandlung von Neutrinos und der Nachweis der Existenz sogenannter »Majorana-Fermionen« durch Wissenschaftler in den Niederlanden. Diese seltsamen Teilchen zerstören sich als ihre eigene Anti-Materie selbst.

Auch die Landung des bislang größten und teuersten Roboterfahrzeugs auf dem Mars kam auf einen der zehn Plätze in der »Science«-Liste der wissenschaftlichen Durchbrüche. Der Rover »Curiosity« (Neugier), so die Begründung, sei von den Ingenieuren der US-Raumfahrtagentur NASA »sicher und präzise auf der Oberfläche des Mars platziert« worden, obwohl das Landesystem nicht unter den Bedingungen des Planeten getestet werden konnte.

Selbst in den Biowissenschaften spielt die Physik noch immer eine wichtige Rolle. So bescheinigt das Fachjournal den sogenannten Röntgen-Lasern bedeutende Fortschritte, da ihre große Helligkeit erlaubte, die Struktur eines Schlüsselmoleküls im Stoffwechsel des Erregers der Schlafkrankheit detailliert aufzuklären, was mit herkömmlichen Röntgenquellen nicht möglich gewesen wäre.

Zu den praktischeren Durchbrüchen, die sich dann wieder mit den Förderschwerpunkten der EU treffen, gehört die Entwicklung von Roboter-Armen, die zumindest unter Laborbedingungen mit dem Gehirn gesteuert werden können.

Ebenfalls auf den Plätzen finden sich bei »Science« verschiedene Leistungen der Genforschung: Neben der Entzifferung des Genoms des Denisova-Menschen, der vor rund 80 000 Jahren in Sibirien lebte, ist das eine neuartige Technik, namens TALEN, mit der Forscher einzelne Gene gezielt verändern bzw. abschalten können. Damit lässt sich die Rolle der Gene und Mutationen in gesunden und kranken Menschen entschlüsseln. Darüber hinaus zeigte das »Encode-Projekt«, dass die vermeintlich nutzlosen Abschnitte des Genoms eine große Zahl von Steuerungselementen der Gene enthalten. Und zu guter Letzt: Japanische Forscher verwandelten embryonale Stammzellen von Mäusen erfolgreich in lebensfähige Eizellen.

Doch ob das baldige Ende des Forschungsmoratoriums für genetisch veränderte H1N1-Grippeviren für einen Durchbruch oder aber einen Einbruch sorgen wird, muss die Zukunft zeigen.

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