Zwischen geistiger Öffnung und Konformismus

Philosophieabsolventen der DDR erinnern sich

  • Lesedauer: 2 Min.

Nietzsche war zwar in der DDR nie verboten, wohl aber tabuisiert. Das Verdikt von Lukács aus den 30er Jahren war zählebig. Erst als im Gefolge des, mit Friedrich II. eröffneten, erweiterten Erbeverständnisses Mitte der 80er Jahre Heinz Pepperle in der Zeitschrift »Sinn und Form« über eine »Revision des marxistischen Nietzschebildes« sinnieren durfte, war der Damm gebrochen und wurde der »missbrauchte Philosoph« im Staat, in dem der Antifaschismus Staatsdoktrin war, differenzierter gewertet und dezidiert freigesprochen von angeblicher Mitschuld an zwölf Jahren Nazibarbarei. Er blieb indes umstritten und schaffte es nicht auf den offiziellen Lehrplan der Philosophiesektionen, wie sich Absolventen der Berliner Humboldt-Universität (HU) im »Philosophiemagazin« erinnern.

Im Jahr, als Gorbatschow KPdSU-Generalsekretär wurde (1985), hatten sie ihr Studium aufgenommen. »Plötzlich erfuhr man in den Seminaren etwas zu Trotzki und Gramsci«, berichtet Ura Kolano. Kerstin Decker entschied sich für die HU wegen eines Professors, von dem es hieß, dass man nach dessen Vorlesungen »die Welt anders sieht als vorher«; die guten Seiten ihres Studiums ließen sich aber nicht allein auf die Lichtgestalt Gerd Irrlitz reduzieren. »nd«-Autor Gunnar Decker ergänzt: »Das Studium war ambivalent. Auf der einen Seite gab es eine große geistige Öffnung, auf der anderen war es schwer, mit derart staatskonformen Menschen konfrontiert zu sein, die es auch unter den Studierenden gab.« Im Heft kommt auch Irrlitz zu Wort. Wohl wissend um die einst wachsamen Ohren der Ideologiewächter, bekennt er rückblickend frank und frei: »Ich konnte in den Vorlesungen eigentlich so frei lehren wie ich wollte.« Nicht mit ehemaligen Aufpassern hadert er hier, sondern mit den »Evaluierern«, die nach 1990 auch in seine Alma mater einfielen: »Mich hat erstaunt, wie schnell Philosophen aus dem Westen bereit waren, die Stellen der DDR-Kollegen zu besetzen.«

Für die letzten Philosophiediplomanden der DDR bedeutete jenes koloniale Gebaren das Ende einer Karriere, bevor sie begann. Die Fünf klagen jedoch nicht, fanden neue Herausforderungen. Und auch der Streetworker dürfte von seinem Philosophiestudium dereinst durchaus noch zehren. K.V.

Philosophiemagazin. Nr. 1/2013, 105 S., 6,90 € (philomag.de/abo).

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