Vater aller Völker

Vor 60 Jahren: Atombombenversuche in der Wüste von Maralinga

  • Walter Kaufmann
  • Lesedauer: 3 Min.
Vater aller Völker

Seit der Kinderlähmung, die ihn im zwanzigsten Lebensjahr heimsuchte, war Maurice Carter ans Bett gefesselt. Wo er lag, war ihm die Sicht auf die grünen Hügel der Dandenongs genommen. Das vom Wind bewegte Blattwerk der Eukalyptusbäume nahm er nur als unruhige Schatten an der Zimmerdecke wahr. Im großen Spiegel aber, der schräg über seinem Kopf befestigt war, konnte er die Leinwand sehen, auf die er, Pinsel in die linke Faust gepresst, mit rücklings ausgestrecktem Arm zu malen gelernt hatte.

Es war ein langer Weg zur Kunst gewesen, und ein noch längerer zur Anerkennung, die er der Hafenarbeiter-Gewerkschaft verdankte, zu der er einst gehört hatte und die weiterhin seine Bilder in ihren Räumlichkeiten zeigte. Seiner Frau, einer Krankenschwester, war zu danken, dass er nach dem Schicksalsschlag das Malen nicht aufgegeben hatte. Sie war es, die ihm beibrachte, im Liegen und mit Hilfe des Spiegels den Pinsel zu führen. Fortan hatte er sich allen körperlich Behinderten verpflichtet gefühlt, auch allen Entrechteten. Er hatte lange an dem Bild einer Aborigine-Frau gearbeitet, Mutter eines Neugeborenen, die wie alle ihres Stammes wegen der Atombombenversuche aus der südaustralischen Wüste von Maralinga vertrieben worden war.

Als ich an diesem Nachmittag Maurice Carters Atelier betrat, war er dabei, einem zu jenem Wüsteneinsatz abkommandierten berittenen Soldaten festere Konturen zu geben - es war Filigranarbeit, die Peitsche in der Faust des Mannes deutlich sichtbar zu machen. Als er den Pinsel sinken ließ, sagte ich: »Eines deiner stärksten Bilder.« Noch löste er den Blick nicht von dem, was ihm der Spiegel zeigte. Dann aber gab er sich zufrieden.»Getan!« sagte er und ließ den Pinsel in die Büchse mit der Lösung gleiten. »Getan - und doch zu spät!«

Wie er das meine, fragte ich.

Mühevoll wendete er den Kopf und sah mich an. »Das Bild war als ein Geschenk für Stalin gedacht. Nun ist er tot!«

Die Sonne war im Schwinden, das Bild verlor an Leuchtkraft, die Frau wirkte dunkler jetzt, der Boden unter ihren Füßen nicht langer so rot, der Soldat mit der Peitsche weniger bedrohlich.

Ich sagte: »Stell es trotzdem in Moskau aus.«

Er wandte den Blick von mir ab. »Der Vater aller Völker«, sagte er, »gerade er hätte die Zusammenhänge begriffen. Nun erreicht ihn das Bild nicht mehr. Das schmerzt.«

Ich schwieg.

Dass ich nur aus Freundschaft zu ihm schwieg, ahnte er nicht.


Vor dem Hintergrund des mächtigen Pilzes einer gezündeten Atombombe lese ich im letzten Spiegel des Jahres 2012 drei Worte: »Felder des Donners« und habe sofort im Sinn, dass im dreiundfünfziger Jahr in der südaustralischen Wüste von Maralinga jene mörderischen Versuche begannen, die mich zu der Novelle »Der Fluch von Maralinga« drängten, ein Prosastück, das in etlichen Sprachen Verbreitung fand - es ging um das Schicksal der Aborigines von Maralinga. Dass es auch Tausende von Strahlenopfern unter den australischen und britischen Soldaten geben würde, die dort eingesetzt gewesen waren. konnte ich damals nur ahnen …

Ich wende den Blick von der Zeitschrift auf Maurice Carters Bild von der Vertreibung einer jungen Mutter aus Maralinga, einer Aborigine, das schon seit Jahrzehnten an einer Wand meines Arbeitszimmers hängt - es wurde mir, dem australischen Delegierten, 1956 in Moskau anvertraut, weil Stalin, dem es gewidmet gewesen war, schon seit Jahren nicht mehr lebte. Die Geschichte »Vater aller Völker« ist für den allzu früh verstorbenen Maler Maurice Carter, der in jenen Jahren, wie viele von uns, Stalin verehrte.
Walter Kaufmann

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