Auswilderung mit ungewissem Ausgang
»Die Nacht der Giraffe« von Edwin
Wie man mit Tieren umgeht, ganz so macht der sino-indonesische Regisseur Edwin es mit seiner menschlichen Heldin. Von der Ex-situ-Erhaltung gefährdeter Arten, ihrer Überführung aus ihrem natürlichen Lebensraum in eine andere, ihrem Überleben (vielleicht) förderliche neue Umgebung, über deren Heimischwerden am fremden Ort bis zur Auswilderung mit ungewissem Ausgang in ihren eigentlichen Lebensraum: naturbelassen ist in diesem Film schier gar nichts. Lana (Ladya Cheryl), von ihrem Vater bei einem Zoo-Besuch im Tiergarten zurückgelassen, wächst als Kind dieses durch und durch menschengemachten Dschungels unter Tigern, Nilpferden und Tierpflegern auf. Sie ist die Protagonistin von »Die Nacht der Giraffe«. Aber die Tiere im Zoo von Ragunan / Djakarta sind gleichwertige Ko-Protagonisten, vom weißen Karnickel, durch dessen Fell sich das Gittermuster seines Käfigs abdrückt, über den Tiger, der in Gefangenschaft den Appetit verlor, bis zum Nilpferd, das aus dem Gartenschlauch trinkt.
Besonders dem gescheckten Hals und der langen rosa Zunge der einzigen Giraffe im Zoo kommt die Kamera buchstäblich hautnah. Ob Giraffen allerdings tatsächlich einst der Grund waren, warum Imperien entstanden und wieder zerfielen, wie einer der Wärter mit ein paar abfälligen Worten über China philosophiert, während er Lana die Haare schneidet?
Die Giraffe, deren Laufgeschwindigkeit bis zu 56 km/h erreichen kann (wie die erwachsene Lana einer geriatrischen Besuchergruppe später erzählen wird), lebt in einem Freigehege von gerade einmal 150 Metern Länge. Eine Strecke, die sie in zehn Sekunden schaffen könnte, wäre sie nicht längst viel zu angepasst an den Lebensraum Zoo, um das auch nur versuchen. Dass die Giraffe ihr rechtes Hinterbein hebt, um das Gewicht ihres vorgereckten Halses auszubalancieren, wenn man sie zwingt, aus einem Eimer auf dem Boden zu fressen statt von den Bäumen, auf deren Höhe ihr Kopf sich bewegt, das erzählt der Film nicht. Das muss man selber sehen.
Tags führt Lana blinde Kinder durch einen Streichelzoo am ausgestopften Objekt, hilft bei der Fütterung der lebenden Tiere oder einem der menschlichen Zoobewohner (selbst genausowenig beim Zoo angestellt wie sie) bei seinen experimentellen Musikaufnahmen. Oder sie spielt mit dem langen Hals der Giraffe hinter einem Baum Verstecken. Nachts läuft sie auf Stelzen durch den Park und fährt einen der bunten Kleinbusse für Kindergruppen bis zum Haus der Giraffe, die ebenso nachtaktiv ist wie sie. Das geht so lange gut, bis ein hübscher junger Streuner, ein Magier und Scharlatan in Cowboy-Montur, der sich im Zoo herumzutreiben beginnt, die nun erwachsene junge Frau zu einem Ausflug in die Welt außerhalb der Tore des Zoos verführt.
Lana die Naive, Lana die Großäugige, die Laufgeschwindigkeit und Lebensgewohnheiten der Tiere kennt, aber nicht die Tricks der Menschen, wird seine ahnungslose Assistentin. Und nach dem (wahlweise unerklärlichen oder ziemlich grausigen) Verschwinden ihres Mentors Animier-Mädchen in einem mafia-geführten Nachtclub. Was man Lana dort beibringt, lässt sie an die lange, bewegliche Zunge der Giraffe aus ihrer Kindheit denken. Was wiederum ein Indiz dafür ist, dass dieser von den Filmfestivals der westlichen Welt gesponserte Film wohl eher für die Leinwände des Westens als für den Binnenmarkt im muslimischen Indonesien gedacht ist.
Im Zoo jedenfalls erscheint Lana jetzt nur noch als ein stummer Geist ihres vergangenen Selbst. Bis... ja, bis der giraffenköpfige Kleinbus für die Kindertouren vor ihrem Schlafsaalfenster erscheint und ihr vielleicht noch einen Ausweg öffnet. Der ist dann allerdings ebenso märchenhaft wie der Rest, nur dass diesmal nicht ein zahlender Kunde, sondern die Giraffe gekrault wird. »Postkarten aus dem Zoo«, der internationale Festival-Titel, trifft es auf den Punkt. Edwins Film ist weniger episodisch aufgebaut als tatsächlich genau das: eine Reihe von fantastisch kunterbunten Momentaufnahmen, aus der sich eine ziemlich zynische Gesamteinschätzung ergibt.
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