Phantasie einer Jugend
Karl Heinz Bohrer spürt in einem wunderbar erzählten Text den Möglichkeiten bürgerlicher Entwicklung nach
In einem Postscriptum schreibt Karl Heinz Bohrer, dass vorliegender Text »nicht Teil einer Autobiographie, sondern Phantasie einer Jugend« sei. »Der Erzähler sagt nicht das, was er über seinen Helden weiß, sondern das, was sein Held selbst wissen und denken kann - je nach seinen Jahren.« Damit unterstreicht er den Untertitel seines Buches, »Erzählung einer Jugend« - einer Jugend freilich, die auf vielfältige Weise mit den Lebens- und Entwicklungsstationen des Kölner Literaturwissenschaftlers, Ästhetikers und Intellektuellen Bohrer übereinstimmt. Doch ist das nicht der entscheidende Punkt, auch nicht die - aufs Ganze gesehen und gegen Bohrers Intention herausgesprungene - Konstruktion einer Identität, die sich im Rückblick auf die eigene Herkunft und Erziehung gebildet hat. Mithin also doch ein autobiografischer Text?!
Nein, denn Bohrer beschreibt eine deutsche Jugend, Lebens- und Schicksalsabschnitte einer Generation, die für den Kriegsdienst zu jung, aber doch alt genug gewesen ist, entscheidende Prägungen durch den Faschismus und Weltkrieg zu erhalten. Anfang der 30er Jahre ist er im Rheinland geboren. Ein Teil der Großeltern ist irischer Abstammung, die Mutter eine ebenso auffällig attraktive wie mondäne und daher aus der Zeit fallende Person, der Vater ein promovierter Ökonom mit jüdischen Freunden. Im Herbst 1939, Frühjahr 1940 erlebt der Junge die Bombardierungen Kölns durch die englischen Flieger. Die Kinder sammeln Granatsplitter, die sie voller Stolz aufbewahren, vorzeigen und tauschen.
Im rheinischen Katholizismus aufgewachsen, dieser Besonderheit innerhalb der katholischen Konfession mit ausgeprägtem sozialen Engagement und auch partiell im politischen Widerstand engagiert, verliert der Junge schließlich seinen Glauben. Intellektuelle Abenteuer, Lektüren, das Theater, charismatische Lehrer im Internat in Süddeutschland, dann beeindruckende Professoren, am Ende ein Aufenthalt in England, dies alles bestimmt das Leben und die Entwicklung.
Dabei handelt es sich, daran lässt Bohrer keinen Zweifel, um Stationen einer bildungsbürgerlichen Biografie, die ein Janusgesicht zeigt, denn mit beidem - den Gefahren und permanenten Gefährdungslagen, die von der NS-Ideologie ausgehen und sich bei bestimmten Lehrertypen auch zeigen, auf der einen Seite, und dem Bekenntnis zur antiken Tradition und einem Humanismus auf der anderen Seite - wird der Junge in unreiner Mischung konfrontiert.
Bohrers Text umfasst drei unterschiedlich lange Teile: auf die überwiegend in Köln erlebten Kriegsjahre folgt die glückliche Zeit im Internat, woran sich schließlich noch ein kürzerer dritter Teil anschließt, der von einem England-Aufenthalt 1953 berichtet. Nach den Kriegserlebnissen mit den Bombennächten im Keller, Leichen auf den Straßen, Furcht und Angst gelingt es dem Jungen im süddeutschen Internat, das Vergangene zu überwinden: »Er wusste fortan, dass die Schule, seine altgriechischen Phantasien und die Stadt am Rhein nichts mehr miteinander zu tun hatten.«
Denn jetzt begegnen ihm die reichen Schätze aus Tradition und literarisch-kultureller Überlieferung, aber auch - in Gestalt eines Junglehrers - die Heideggersche Philosophie und der französische Existenzialismus, erste Auseinandersetzungen mit der (historischen wie soziologischen) Aufarbeitung des Faschismus. Nach dem glänzenden Abitur und dem Beginn des Studiums in Köln findet er beeindruckende akademische Lehrer wie den Germanisten Richard Alewyn. Dies und schlussendlich die lebendige Erfahrung einer so grundsätzlich und gründlich anderen Politik und Gesellschaft im England der frühen 50er Jahre bestärken den jungen Intellektuellen in seinem Wunsch, Hochschullehrer zu werden, und zwar für Germanistik, wobei er vor allem das Geschäft eines kritischen Analysierens hochhält.
Was Bohrer in seinem wunderbar erzählten Text nicht zuletzt zu zeigen versucht, sind Möglichkeiten einer bürgerlichen Entwicklung - einer Entwicklung jenseits des Einflusses totaler Ideologien, deren Trommelfeuer durch die Liebe und das Bekenntnis zu antiken Traditionen und zu dem, was der fünf Jahre ältere Soziologe Niklas Luhmann (Jg. 1927) mit »alteuropäischer Überlieferung« bezeichnet hat, durchaus erfolgreich bekämpft werden kann.
Karl Heinz Bohrer: Granatsplitter. Erzählung einer Jugend. C. Hanser Verlag, 320 S., geb., 19,90 €.
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