Stilvolle Kulturrevolution
Der Jury-Präsident der Berlinale Wong Kar-Wei über Kung-Fu, Truffaut und Nostalgie
nd: Sie sind in diesem Jahr nicht nur der Präsident der Wettbewerbs-Jury der Berlinale, sondern präsentieren mit »The Grandmaster« auch den Eröffnungsfilm. Ist das eine doppelte Belastung oder eine doppelte Freude für Sie?
Wong Kar-Wei: Ich würde sagen, es ist eine doppelte Ehre! »The Grandmaster« als Eröffnungsfilm zu zeigen, ist ein großes Glücksgefühl für mich, bedeutet aber auch Stress. Die ganze cineastische Welt blickt heute auf die Eröffnung und somit auch auf »The Grandmaster«. Ich hoffe, er fällt bei Publikum und Presse nicht durch.
Das wird kaum zu erwarten sein, gelten Sie doch als Publikums- und Kritikerliebling zugleich. Ihre Anhänger kennen Sie als Spezialisten für stilvolle, tragische Romanzen wie »In the Mood for Love« oder »2046«. Dabei scheinen Sie auch ein Anhänger von Martial-Arts-Filmen zu sein, wie »Ashes of Time« und nun »The Grandmaster« - über einen Mentor von Bruce Lee - beweisen. Was lieben Sie so an Kung-Fu-Filmen?
Ich bin zwar in Shanghai geboren, aber in Hongkong aufgewachsen. Anfang der 70er Jahre sah ich als Jugendlicher die Martial-Arts-Filme von Bruce Lee. Er verzichtete auf Tricks wie durchsichtige Fäden, an denen die Schauspieler durch die Gegend wirbelten, und drehte die Action selbst - ohne Doubles und mit Gegnern, die wirklich kämpfen konnten. »Die Todesfaust in Cheng Li« (»Tang shan da xiong«) und »Todesgrüße aus Shanghai« (»Jing wu men«) brachen in Hongkong damals alle Kassenrekorde und machten sogar Hollywood neugierig.
»Der Mann mit der Todeskralle« (»Entert he Dragon«) war wirklich fantastisch. Bruce Lee, der in kantonesisch eigentlich Lee Siu-Lung hieß, war keinem bestimmten Kampfstil verpflichtet, sondern setzte ihn aus verschiedenen Stilen zusammen. Die Filme waren einfach, direkt und brutal, hatten aber alle die philosophische Grundhaltung, den Kampf nur zur Verteidigung einzusetzen. Es ist nicht nur die französische Nouvelle Vague, die mich als Filmemacher inspirierte. Auch Bruce Lee war und bleibt mein Held. Vor ihm will ich mich mit meinem Film »The Grandmaster« verbeugen und ihm meinen ganz eigenen Respekt erweisen.
Kann man Ihren letzten großen Film, »2046«, der im Science-Fiction-Gewand daherkommt, als Fortsetzung von »In the Mood for Love« bezeichnen?
Nein, obwohl es stilistische Gemeinsamkeiten gibt. »2046« ist ein Film, der aus mehreren - zeitlichen wie inhaltlichen - Blöcken zusammengesetzt ist. »In the Mood for Love« war eine eher lineare Geschichte.
Trotz seiner Zukunftsepisoden spielt »2046« genauso wie »In the Mood for Love« vorrangig in den 60er Jahren. Was fasziniert Sie so an dieser Epoche?
Zunächst einmal bin ich in dieser Zeit aufgewachsen. Ich bin als Fünfjähriger 1963 von Shanghai nach Hongkong gekommen. Das war eine total neue Erfahrung für mich. Fernöstliche und westliche Lebenskultur waren Gegensätze, die mich magisch anzogen. Es war eine äußerst kreative Epoche. Filme, Musik, Mode der 60er Jahre beschritten neue Wege, trauten sich mehr, hatten aber im Unterschied zu den 70er Jahren noch einen klassischen Look.
Also eine Art stilvolle Kulturrevolution?
Genau, auch wenn die wirkliche Kulturrevolution in der Volksrepublik China stattfand. Hongkong war ja eine britische Kolonie, die mit angloamerikanischen Kulturgütern überschwemmt wurde. Als Kind hat man nur den Hauch einer Ahnung, was die wirklichen gesellschaftspolitischen Probleme betrifft.
Das Leben in Hongkong in den 60er Jahren war für mich ein nicht enden wollender Urlaub. Bedenken Sie, dass man als sehr junger Mensch ein ganz anderes Zeitgefühl hat.
Sind Sie ein Nostalgiker?
Durchaus. Kindheit und Jugend prägen uns wie kein anderer Zeitabschnitt. Die Kraft der Erinnerung ist eine wundervolle Macht, die Ur-Sehnsüchte in uns weckt. Doch wir neigen auch dazu, die Vergangenheit zu verklären. In der Erinnerung wird alles perfekt, obwohl Vieles vielleicht gar nicht besser war. Dennoch kann ich mich diesen Rückbetrachtungen nicht entziehen.
Ihre Schauspieler kennen meist nicht das komplette Skript und wissen nicht, was mit den von ihnen verkörperten Figuren am nächsten Drehtag passieren wird.
Es stimmt, die Schauspieler wissen am Ende eines Drehtags nicht, in welche Richtung sich die Geschichte weiterentwickeln wird. Guten Schauspielern kann man dies zumuten. Das Überraschungsmoment interessiert mich. Ich möchte nah am wirklichen Leben bleiben und nicht »nur« Kunst produzieren: Wir wissen doch alle nicht, was uns am nächsten Tag tatsächlich erwartet.
In »2046« hat der Schriftsteller eine Schreibblockade. Kennen Sie dieses Problem auch als Autor, der die Drehbücher seiner Filme schreibt?
Nein, die lange Produktionszeit hat nichts mit einer Blockade in meinem Kopf zu tun. In den letzten Jahren hat sich die Filmindustrie in Hongkong gewaltig verändert. Trotz bemerkenswerter Filme erlitt der asiatische Markt einen Kollaps. Die Finanzierung ist nicht immer gewährleistet, man ist förmlich gezwungen, mit anderen Ländern zu kooperieren. Doch durch die Koproduktionen mit Frankreich oder Italien ergeben sich auch neue Chancen. Der weltweite Vertrieb asiatischer Filme wird besser. Als Produzent, Drehbuchautor und Regisseur habe ich also einen Haufen Verantwortung. Doch meine Kreativität wird dadurch nicht behindert.
Warum wählten Sie eigentlich verschiedene Komponisten für den Soundtrack von »2046«?
Wir hatten in »2046« zwei Hauptkomponisten. Zum einen Shigeru Umebayashi, der bereits den Score für »In the Mood for Love« schrieb, und den inzwischen leider verstorbenen Peer Raben, dessen Musiken ich schon bei den Filmen Fassbinders bewunderte. Die Wahl der Filmmusik ist auch ein Tribut an meine eigenen Lieblingsregisseure: Truffaut, Kieslowski und Fassbinder.
Einer von Truffauts schönsten Filmen ist »Der Mann, der die Frauen liebte«. Sind sie der Regisseur, der die Frauen liebt?
Ja, natürlich! Truffaut und ich, sind nicht nur die Regisseure, die die Frauen über alle Maßen lieben, sondern wir stellen auch die Verehrung, die wir ihnen entgegenbringen, ins Zentrum fast all unserer Filme.
Truffauts Alter Ego war in vielen Filmen Jean-Pierre Léaud. Ist Tony Leung Chiu Wai, der Hauptdarsteller aus »Ashes of Time«, »Chungking Express«, »In the Mood for Love«, »2046« und nun in »The Grandmaster«, das Ihrige?
So weit würde ich nicht gehen. Tony ist viel flexibler als ich.
Für Eisenstein war die Form alles, für Chaplin der Inhalt. Was ist für Sie bei einem Film wichtiger?
»Was« und »wie« sind für mich untrennbar miteinander verbunden. An sich denke ich aber nicht sehr viel darüber nach, wie ein Film aussehen sollte. Wichtig ist, dass er physisch wird.
Sie sagten einmal, Liebe ist eine Frage des Timings.
Richtig, gerade in der heutigen, hektischen Zeit. Vieles Bedeutsame wird einem erst bewusst, wenn es
schon vorbei ist.
hre Protagonisten scheinen äußerlich häufig sehr kontrolliert. Ist dies ein Wesenszug der fernöstlichen Kultur?
Ich denke, dass die asiatischen Menschen weniger kontrolliert, als eher passiv sind. Ich bin kein Regisseur des »clear go«, der Filme nach dem Motto »I want to be a champion!« dreht. Mehr als die Aktion interessiert mich die Reaktion.
Ihre Filme laufen in Hongkong und in China an. Gibt es Unterschiede in der Publikumsreaktion?
In China mögen es die Leute, über den Film im Anschluss zu diskutieren. Das liegt daran, dass sie es lange nicht durften. In Hongkong möchten sie wie in den USA in erster Linie unterhalten werden. Der teilweise freizügige Umgang mit Erotik in meinen Filmen, der vor ein paar Jahren noch nicht möglich gewesen wäre, hat die Chinesen überrascht. Doch es hat ihnen gefallen.
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