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Rührende Revolutionäre

»Les Miserables« von Tom Hooper

  • Caroline M. Buck
  • Lesedauer: 5 Min.

Die Romanvorlage, Victors Hugos »Die Elenden« von 1862, gehört zu den meistverfilmten Werken der Weltliteratur. Das Musical zum Roman, 120 Jahre jünger, zählt zu den erfolgreichsten Werken der Popgeschichte. Ob der Film zum Musical »Les Misérables« in seinem Medium so groß sein wird wie dieser Dauerbrenner auf den Musical-Bühnen der Welt, steht wohl in Frage. Zum Stoff, aus dem Legenden sind, taugt die britische Produktion eher nicht.

Dabei gibt Regisseur Tom Hooper, für »The King’s Speech« vor drei Jahren mit allen Preisen bedacht, die die westliche Filmwelt zu bieten hat, sich alle Mühe. Seine Stars sangen nicht nur selbst, sondern live während der Filmaufnahmen, statt bloß zum Playback ihrer akustisch perfektionierten Studio-Einspielungen zu mimen (weshalb die deutsche Fassung des Films auch fast ausschließlich aus englischsprachigen Songs besteht). Den dadurch gewonnenen Grad an Realismus hebt Hooper mit seiner Regie aber wieder auf. Die Kamera ist immer entweder in wilder, aufrührerischer Bewegung - hier geschieht Unrecht, empört euch, das Volk auf die Barrikaden! - , oder klebt ganz nah dran am Gesicht ihrer Protagonisten. Dazwischen ist wenig, der Gesamteffekt irritierend.

Zu einem gewissen Grad passt das zur Vorlage, die viel bewegte Zeitgeschichte über ein reduziertes Figurenpersonal und desto größer ausgebaute Gefühle transportiert: Scham, Schuld und Verlust der Würde auf der einen Seite, Aufbegehren, Selbsterkenntnis und Überwindung des Egoismus auf der anderen. Aber von Hugos Unterschichts-Milieustudie einer Zeit, deren Rechtssystem das Gesetz der Verhältnismäßigkeit nicht kennt und Menschen in Arbeitslager schickt, die vor Hunger Mundraub begingen, ist im Musical wenig mehr als eine tragische Unglücks- und Rachegeschichte geblieben. Jean Valjean, der Ex-Sträfling, der nach einem Gnadenakt seine Menschlichkeit wiederfindet, der Cosette, die Tochter der Prostituierten Fantine, bei sich aufnimmt und zum Wohltäter einer darbenden Menschheit wird, während ihm der engstirnige Gesetzeshüter Javert wie ein Dämon auf den Fersen ist, ist von der ersten Szene an die Christusfigur eines Werks, dessen Credo lautet: »To love another person is to see the face of God« - einen anderen Menschen zu lieben, heißt das Antlitz Gottes sehen.

Liebe und Fürsorge füreinander sind die Religion des Films, auch wenn Javert (Russell Crowe) sich lieber umbringt, als eine solche Abweichung von seiner harten Rechtsauffassung in sein Weltbild aufzunehmen. An Liebe und Fürsorge für ihr Volk lassen es die Obrigkeiten eklatant fehlen, aber auch mit der Solidarität unter den Armen und Geschundenen ist es nicht weit her: die Kolleginnen in der Fabrik sind es, die Fantine (Anne Hathaway) erst ins Verderben stürzen. Eine ledige Mutter, die Geld verdient, um ihr bei Pflegeeltern untergebrachtes Kind durchzubringen? So eine, mitten unter ihnen? Da könnte ja der eigene Ruf Schaden nehmen. Also wird Fantine davongejagt - und weil Valjean (Hugh Jackman), inkognito zum Fabrikbesitzer aufgestiegen, sich nicht die Mühe macht, das zu verhindern, wird er sich später an ihrem Totenbett verpflichten, sich um das Wohl ihrer Tochter fortan selbst zu kümmern.

Cosettes Pflegeeltern (Sacha Baron Cohen, Helena Bonham Carter), zu deren Bezahlung die geschasste Fantine erst ihren Schmuck, dann Haare und Zähne und schließlich den Rest ihres Körpers verkauft, sind die eher unkomischen Pausen-Clowns in der taschentuch-strapazierenden Dauergefühligkeit des Films. Ein Diebs- und Halsabschneider-Duo in grotesker Verkleidung, das immer mal wieder gebraucht wird, um die Handlung mit einer unwahrscheinlichen Zufallsbegegnung aller handelnden Personen eine weitere Umdrehung in Richtung Melodram zu drehen. Ihre eigene Tochter, Éponine (Samantha Barks), wird sich in Marius verlieben, einen der revolutionären Studenten, die sich 1832 anschicken, die Barrikaden zu erklimmen (Eddie Redmayne, eine echte Entdeckung), der aber wird nur Augen haben für Cosette. Und deshalb übrigbleiben, wenn die Freunde tot sind, und sein ganz zeitgemäß biedermeierliches Glück finden, in einer privaten Zweisamkeit, zurück am Busen seiner wohlhabenden Familie.

Erstmal aber geht der zaghafte Versuch des frisch verliebten jungen Helden, seine neue Passion zwischen sich und die Barrikaden zu legen, im gruppendynamischen Prozess und dem Gefühl der Loyalität zu den Freunden unter - der Gruppe junger Männer in Westen und Halstuch, die sich die alten Zustände nicht länger gefallen lassen mögen. In der (unbegründeten) Hoffnung, die Bürger von Paris würden schon solidarisch zu ihnen stehen, sobald es Barrikaden gebe, singen sie ihre Lieder - die einzigen, die tatsächlich im Gedächtnis bleiben. Wenn »I Dreamed a Dream«, Fantines Schwanengesang, längst verklungen ist und auch das Liebesgesäusel von Cosette (Amanda Seyfried) und Marius nur noch eine Erinnerung in Rosenrot, klingen das mitreißende »Rot und Schwarz« und das hoffnungsvolle »Do You Hear the People Sing« der Aufständischen weiter nach.

Sie können einen rühren, diese jungen Revolutionäre auf ihrer prekären Burg aus Tischen und Stühlen, aus Klavieren und Matratzen, die nichts als einem sinnlosen Tod entgegengehen, weil sich so gar niemand mit ihnen solidarisieren wird, während die französische Armee Kanonen auf die Barrikaden richtet. Am Ende wird nur noch Marius, von Valjean vor den Kugeln gerettet, am Tisch sitzen, wo sich vorher die Studenten trafen, und mit dem Schuldgefühl des Überlebenden ein herzzerreißendes Lied auf seine toten Freunde singen (»Empty Chairs at Empty Tables«).

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