Die schweigende Mehrheit

Monika Held: Was es heißt, Auschwitz überlebt zu haben

  • Natalya Arensberg
  • Lesedauer: 3 Min.

Es sind wenig romantische Umstände, unter denen sich der Wiener Heiner Rossek und die Deutsche Lena in den 1960er Jahren in Frankfurt am Main begegnen. Lena ist Übersetzerin und arbeitet für das Gericht, wo sich Heiner widerstrebend und doch entschlossen als Zeuge in einem Kriegsverbrecherprozess gegen mehrere Nazischergen einfindet. Als Auschwitz-Überlebender mag er die Hoffnung, Deutschland sei zu später Gerechtigkeit fähig, nicht aufgeben. Welchen Sinn hätte sein Leben sonst noch, wenn nicht den, an das Grauen im Land der Täter zu erinnern und sichtbar zu machen?

Doch Heiner merkt schnell, was er ohnehin ahnt: Niemand will hören, was in den Lagern geschah. Nicht nur die Angeklagten, die alles abstreiten oder zu ihrer Entlastung Befehlsnotstand anführen, und die sich so zugleich der Frage entziehen, ob sie Reue fühlen und zeigen sollten, setzen die Perfidie ihres vergangenen Handelns fort. Auch die Anwälte, Gutachter, Richter und Medien töten die Opfer ein zweites Mal, indem sie die Worte jener, die dem faschistischen Terror entkamen, systematisch anzweifeln, nachmessen, ob deren Beschreibungen wahr sein können, Details abfragen, an die sich die Gefolterten kaum erinnern können.

Heiner ist krank und verbittert. Die Schrecken der durchlebten Jahre im KZ, versehen mit dem Stempel »RU« (Rückkehr unerwünscht), und die Ignoranz der Gegenwart machen ihn zu einem gebrochenen Mann, der zu keiner Liebe mehr fähig ist. Seine erste Ehe mit seiner Jugendliebe Martha, die - wie er - im kommunistischen Widerstand gegen das Regime kämpfte, scheiterte daran. Zur gemeinsamen Tochter Kaija hat er keinen Kontakt mehr. Und doch geschieht das Unerwartete: Er verliebt sich in Lena, und Lena liebt ihn. Bedingungslos. Vorsichtig versuchen sie eine Annäherung: nicht in Wien, wo sie nicht leben mag, nicht in Frankfurt, wo er nicht leben kann, sondern in einem Haus am Meer, irgendwo im Norden. Und vor allem auf einer gemeinsamen Reise nach Polen, wo Lenas Familie einst herkam, und wo Heiner die einzigen Freunde hat, die ihm blieben.

Sie sind Lagerüberlebende, wie er, die mittlerweile - wir schreiben nun 1981 - mit der polnischen Solidarnosc gegen Jaruzelskis Militärherrschaft opponieren: Leszek, Tadek, Miltek, Piontek. Wie Heiner Rossek gehören sie zu den wenigen, die Lagerentsetzen und den Todesmarsch am Ende des Krieges überstanden. Jeder von ihnen fand seine Weise, die Vergangenheit zu bewältigen, wissend, dass außer jenen, die das gleiche durchgemacht haben, niemand wirklich verstehen kann, was es heißt, ein Überlebender der Nazilager zu sein. Willkür, Todesmut, Solidarität, Gerechtigkeit haben für sie einen anderen Klang und eine andere Bedeutung, als für die meisten der Nachkriegsgesellschaft, jene schweigende Mehrheit, die die Augen und Ohren vor dem, was war, verschloss und sie nie wieder öffnen will.

Monika Held setzt jenen tapferen Opfern mit ihrem dritten Roman ein Denkmal. Lena muss lernen, die albtraumhaften Reliquien ihres Mannes hinzunehmen, weil dieser sich aus dem Bann der Vergangenheit nicht befreien kann. Sie muss sich damit abfindet, ihn zu lieben, ohne ihm helfen zu können. So verweist die Autorin ihre Leserinnen und Leser mit sanfter Nachdrücklichkeit auf die Frage, was Menschsein und Menschlichkeit nach Auschwitz noch bedeuten.

Ihr Roman ist ein Plädoyer, nicht nur zu versuchen, die Täter - und damit auch das eigene (Nicht-)Handeln - zu verstehen. Die Überlebenden muss man hören, ist die Botschaft, die durch die Zeilen klingt. Es wäre damals, nach 1945, nicht nur ihr Recht gewesen, als Opfer zu reden, sondern auch ein besserer Weg in eine menschlichere Zukunft für alle.

Die meisten, die den Lagern entrinnen konnten, sind heute tot. Monika Helds Buch kommt dennoch nicht zu spät. Denn für Einsichten, Nachfragen und Empathie ist jeder Moment der richtige.

Monika Held: Der Schrecken verliert sich vor Ort. Roman. Eichborn. 272 S., geb., 19,99 €.

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