Italien droht die »belgische Lösung«
Den einen Partner will Wahlsieger Bersani nicht, der andere verweigert sich
Pier Luigi Bersani, der Vorsitzende der Demokratischen Partei (Partito Democratico - PD), hat eine Aufgabe vor sich, die zumindest im Augenblick unlösbar erscheint. Sein Bündnis hat die Wahlen in Italien gewonnen, aber aufgrund des Wahlsystems hat er nur in der Abgeordnetenkammer die Mehrheit, die er für eine Regierungsbildung braucht. Im Senat fehlen ihm die notwendigen Stimmen.
Wenn Bersani eine Regierung bilden will, braucht er also Koalitionspartner. Nicht einmal die Stimmen, die ihm der noch amtierende Ministerpräsident Mario Monti zur Verfügung stellen könnte, würden für eine Mehrheit im Senat ausreichen. Blieben die beiden anderen Parteien als mögliche Partner: entweder Silvio Berlusconis »Volk der Freiheit« (Pdl) oder die »Bewegung 5 Sterne« (M5S) des ehemaligen Komikers Beppe Grillo. Doch beide Wege scheinen nach heutigem Stand verbarrikadiert.
Nach der Konstituierung des Parlaments will Staatspräsident Giorgio Napolitano voraussichtlich am 19. März die offiziellen politischen Konsultationen mit den Parteien aufnehmen. Er hofft immer noch, bis Ende März einen Auftrag für die Regierungsbildung erteilen zu können.
Bei der Parlamentswahl am 24. und 25. Februar wurde das vom Sozialdemokraten Pier Luigi Bersani angeführte Mitte-Links-Bündnis mit 29,54 Prozent der Stimmen stärkste Kraft im Abgeordnetenhaus. Aufgrund einer Bonusregel erhält es automatisch die Mehrheit der Sitze (340 von 630). Im Senat gibt es diesen Bonus nicht. Bersanis Bündnis erhielt zwar die meisten Wahlstimmen (31,63 Prozent), erhielt dafür jedoch nur 113 der 315 Sitze. Auf den Berlusconi-Block entfielen 116, auf Beppe Grillos »Bewegung der 5 Sterne« 54 und auf Mario Montis Zentrumsbündnis 19 Senatsmandate. Eine Mehrheit zeichnet sich im Senat nicht ab. Gesetze bedürfen jedoch der mehrheitlichen Zustimmung beider Kammern.
Wenn sich die Abgeordneten nicht einig werden, könnten Neuwahlen erforderlich werden. Allerdings besteht das Problem, dass Staatspräsident Napolitano das Parlament in den letzten sechs Monaten seiner Amtszeit nicht auflösen darf. Diese Amtszeit endet jedoch am 15. Mai. Ein neuer Präsident - Napolitano will nicht noch einmal antreten - wird durch beide Kammern des Parlaments und Vertreter der 20 Regionen gewählt. nd
Eine Koalition mit dem Pdl hat Bersani selbst ausgeschlossen: Zu tief sind die Gräben, die beide Seiten trennen, obwohl sich Berlusconi und seine Mitarbeiter seit der Wahl immer wieder anbieten. Sie wollen eine »Große Koalition« - der Ausdruck hat inzwischen Eingang in den italienischen Sprachgebrauch gefunden. Allerdings klären sie nicht, auf welcher programmatischen Grundlage ein solches Regierungsbündnis möglich wäre. Dazu kommt, dass sich das »Volk der Freiheit« geschlossen hinter seinen Gründer Berlusconi stellt, dessen juristische Probleme sich immer mehr zuspitzen. Gegen den angeblichen Versuch der vermeintlich »kommunistischen Richter«, Berlusconi durch eine Verurteilung »aus dem Weg zu räumen«, haben die neu gewählten Parlamentarier der Partei sogar eine Protestkundgebung im Justizpalast von Mailand inszeniert, was für jede Demokratie mit Gewaltenteilung eine Ungeheuerlichkeit ist.
Der andere potenzielle Koalitionspartner wäre die »Bewegung 5 Sterne«. Die aber schließt eine organische Zusammenarbeit mit den Demokraten aus. Die Position der Grillo-Leute ist klar, wenn auch nicht ganz stimmig. Auf der einen Seite räumen sie ein, dass es in vielen Punkten Gemeinsamkeit mit Bersanis Demokraten gibt: Beide Seiten wollen zum Beispiel ein neues Wahlgesetz, die Stärkung der öffentlichen Schulen und Krankenhäuser, ein Gesetz gegen den Interessenkonflikt, die Verringerung der Zahl der Parlamentarier und die Kürzung der staatlichen Ausgaben für deren Bürokratie, den Ausbau der erneuerbaren Energien. Gleichzeitig schließt die Bewegung aber kategorisch aus, irgendeiner Regierung ihr Vertrauen zu geben. Gerne werde man einzelnen Gesetzen zustimmen und von Fall zu Fall zusammenarbeiten, heißt es immer wieder, aber eine gemeinsame Regierung mit den Demokraten sei ausgeschlossen. Nur muss eine Regierung erst einmal das Vertrauen der Kammern haben, bevor sie einzelne Gesetze zur Abstimmung stellen kann. Führende Intellektuelle aus dem fortschrittlichen Lager, von Oscar-Preisträger Roberto Benigni über den Anti-Mafia-Priester Don Ciotti bis zum Rapper Jovanotti, haben Bersani und Grillo deshalb in einem Appell »Lasst es uns machen« aufgefordert, diese Gelegenheit für einen Neuanfang des Landes nicht ungenutzt zu lassen und gemeinsam eine Regierung zu bilden.
Sollten die Positionen aber unverändert bleiben, wäre in Italien überhaupt keine Regierungsbildung möglich. Damit will man sich natürlich nicht abfinden. Denn niemand kann sagen, wie neuerliche Wahlen in einigen Monaten ausgehen würden: Aus verschiedenen Umfragen geht hervor, dass die Fronten in etwa gleich bleiben würden, wobei Beppe Grillo vielleicht ein paar Prozentpunkte hinzugewinnen könnte. Vor allem aber braucht Italien in der augenblicklichen Krisensituation eine handlungsfähige Exekutive und einen starken Verhandlungsführer in der Europäischen Union.
Für Pier Luigi Bersani wären Neuwahlen eine besonders harte Niederlage. Es ist kein Geheimnis, dass die Demokraten kein einheitlicher Block sind und die Stellung des Vorsitzenden durchaus nichtunangefochten ist. Und so heißt es, dass der Bürgermeister von Florenz, Matteo Renzi, bereits in den Startlöchern steht, um bei eventuellen Neuwahlen als Spitzenkandidat der PD anzutreten und eine Annäherung an die konservativen und rechten Positionen des Pdl zu versuchen. In diesem Fall stünde die Demokratische Partei wohl vor einer Zerreißprobe.
Immer häufiger spricht man in Rom daher von einer »belgischen Lösung«. In Belgien hatte die Regierungsbildung nach Wahlen 2010 anderthalb Jahre gedauert. In dieser Zeit hatte das Königreich lediglich ein geschäftsführendes Kabinett. In Italien überlegt man jetzt, ob es möglich wäre, die augenblickliche »technische« Regierung unter Mario Monti im Amt zu belassen. Mit wechselnden Mehrheiten könnte sie walten, bis sich ein neues Szenarium eröffnet, oder zumindest so lange, bis ein neues Wahlgesetz verabschiedet ist, das bei Neuwahlen die Möglichkeit klarer Mehrheiten böte.
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