Dem Sonnengott folgend

»Kon-Tiki« von Joachim Ronning & Espen Sandberg

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.

Dies ist ein Film über eine Legende in gleich mehrfacher Hinsicht. Der Zweite Weltkrieg ist verloren, man blickt nach vorn. Wir sollen die Welt nicht zu erobern versuchen, aber wir können sie entdecken!

So der Geist des Jahres 1947, als der Norweger Thor Heyerdahl sich mit Kon-Tiki auf den Weg von Peru nach Polynesien macht. Nein, keine gezielte Reise, sondern ein sich Treiben-Lassen auf einem Floß über den Stillen Ozean. Mit Tiki, dem »Sohn der Sonne«, der der Legende nach aus dem Osten kam, als einzigem Beschützer. Dieses Sich-den-Elementen-Aussetzen ist eine Erneuerung des Vertrauensbundes mit dem Meer. Das Floß, aus neun riesigen Stämmen Balsa-Holz gefertigt, wird von Hanftauen zusammengehalten, darauf steht eine Bambushütte für sechs Mann Besatzung. Bis auf einen sind alle ohne Erfahrung auf See. In Callao, einem Marinehafen in Peru, bauen sie die Kon-Tiki. Die Balsa-Stämme kamen aus dem Dschungel von Ecquador. Da lag das - nicht recht manövrierbare Floß - neben den grauen Stahlkörpern der U-Boote und Zerstörer. Welch beglückender Anachronismus!

Einen einzigen Beweis soll die Reise erbringen: Die alten Legenden enthalten zuverlässigere Wahrheiten über die Besiedelung Polynesiens als die moderne Wissenschaft! Dieser stand Heyerdahl ohnehin skeptisch gegenüber, denn hatte sie nicht geholfen, einen fruchtbaren Krieg noch furchtbarer zu machen? »Vielleicht sind wir die letzten Menschen unter dem Himmel«, sagt einer der Floßfahrer, als sie nachts auf dem dunklen Meer treibend in den Himmel blicken. »Wenn sie noch ein paar Atombomben geworfen haben«, ergänzt ein anderer. »Dann hätten wir aber keinen Funkkontakt mehr«, widerspricht ein dritter. Das klingt makaber, aber es zeigt, dass die Kon-Tiki 1947 nicht im zeitlosen Niemandsland über das Meer fuhr, dorthin, wo es die Strömung hintrug.

Der Film, die größte Spielfilmproduktion Norwegens überhaupt, ist ein opulentes Fest der Bilder jenseits der Hollywoodästhetik, eher elegisch, fast schon melancholisch. Ja, der Überlebenskampf auf See ist hart, wenn man nicht weiß, wohin es einen führen wird. Und das Holz saugt sich langsam, aber unaufhaltsam voll Wasser, diese Stellen sind schwer wie Stein und versinken sofort, wenn man sie ablöst. Die Verfilmung der beiden norwegischen Regisseure Joachim Ronning und Espen Sandberg lebt jedoch von einer anderen Grundstimmung: der Freude über die friedliche Stille mitten auf dem Meer, trotz Stürmen, Haien und gelegentlichem Streit. Diese Nachkriegsatmosphäre, ohne die die Reise der Kon Tiki nicht möglich gewesen wäre, jedenfalls nicht so erfolgreich, ist jederzeit spürbar im Film.

»Kon-Tiki« folgt der Chronik der Expedition, wie von Heyerdahl in seinem Buch beschrieben und wie - von Anfang an war Heyerdahl auch ein geschicktes Selbstvermarktungstalent - im Dokumentarfilm zur Reise festgehalten. Wir sehen auch hier, dass alle großen Unternehmungen eine Kränkung zur Vorgeschichte haben. Die Heyerdahls ist, dass er jahrelang überall seine Theorie von der Besiedlung Polynesiens von Südamerika aus vertritt und dafür von allen Experten nur verlacht wird. Unmöglich, die hatten gar keine Schiffe! Aber Flöße, so wie die alten Inkas, widerspricht der junge Norweger. Man hält ihn, ob solcher Ansichten, für einen Narren. Da weiß er, er wird selber fahren müssen, zu den gleichen Bedingungen wie vor tausend Jahren. Und war er nicht selber in Polynesien gewesen und hatte Pflanzen entdeckt, wie die Süßkartoffel, die aus Amerika kommen mussten?

Und nun also eine Fahrt ins Ungewisse mit einer Besatzung, in der ein Kühlschrankvertreter (früher Aussteigertyp mit Hang fürs Praktische) nicht weiter auffällt, weil alle anderen - einschließlich Heyerdahl selbst - ebenfalls Novizen des Meeres sind. Der Expeditionsleiter kann noch nicht einmal schwimmen. Aber das ist ohnehin egal, denn kein erfahrener Seemann hätte sich je auf diesen Wahnsinn eingelassen. In zwei Wochen seien die Seile durchgerieben und das Floß falle auseinander, dann könne sich jedes Besatzungsmitglied auf einen eigenen Stamm setzen, spotten sie. Heyerdahl weiß, manchmal ist die Erfahrung der Fachleute auch der Feind einer Entdeckung, die so neu ist, dass man an sie glauben muss wie an einen Gott: Tiki etwa, den Sonnengott, in dessen Zeichen sie nun auf dem Meer treiben.

Hundert und einen Tag dauert die achttausend Kilometer lange Reise, deren gefährlichster Moment am Ende liegt: die Riffe vor den Inseln Polynesiens, gegen die das Floß nicht gewappnet ist. Wie der Film diese dramatischen Momente ausspielt, ohne äußerlich zu werden, das ist bestes Kammerspiel. Zumal »Kon-Tiki« fast ganz ohne Musik auskommt. Wir können uns ganz auf die sechs Sonnensucher konzentrieren, die hier miteinander reden und öfter noch schweigen: Darin bündelt sich ihr bisheriges Leben, das vom Krieg schwer beschädigt wurde. Auch sie haben gekämpft und getötet, die Unschuld des In-der-Welt-Seins ist ihnen abhanden gekommen. Was sie alle hier vereint, ist der Versuch einer inneren Befriedung. Nicht ihr Wille zählt, auch nicht der irgendeines Vorgesetzten, sondern nur der des Meeres und des Sonnengottes Tiki.

Das macht »Kon-Tiki« zu einem so besonderen Film: Es ist eine Expedition der Expeditionsteilnehmer zu sich selbst. Sie alle wollen einen neuen Anfang machen, anders leben lernen. Der Film ist, damit die archaische Qualität der Floßfahrt stimmt, voller High-Tech-Effekte, die aber niemals in den Vordergrund drängen. So bestehen die Haie und anderen ansehnlichen Meerestiere, die das Floß ständig begleiten (mitunter auch bedrängen) aus Latex und wurden vom Computer nachträglich animiert. Das Resultat wirkt dann tatsächlich völlig natürlich.

Vor einigen Tagen kamen Sohn und Enkel von Thor Heyerdahl, der 2002 starb, nach Berlin. Der Enkel Olav hatte vor einigen Jahren die erste große Reise seines Großvaters noch einmal wiederholt. Sein Floß, das er aus elf Balsa-Stämmen baute, nannte er »Tangaroa«. Die Erfahrung des Unterwegsseins war für ihn in vielem der des Großvaters gleich. Nur, während dieser ständig Haie beobachtete, sah der Enkel auf der ganzen Fahrt nur noch insgesamt drei Exemplare. Dafür Unmassen von im Meer treibendem Müll. Die letzten der Ureinwohner Polynesiens, die Thor Heyerdahl von ihrem Häuptling und Gott Tiki erzählt hatten, sind längst ausgestorben. Auch das ist anschaubare Globalisierung: Die Vielfalt dieser Welt reduziert sich in beängstigendem Tempo.

Gut, dass wir mit Heyerdahl, diesem genauen Beobachter und romantischen Träumer zugleich, einen Zeugen (und Dokumenten-Bewahrer) haben, für die unwiederbringlichen Kultur-Verluste durch fortgesetzte Verwestlichung der Welt. Von der Expedition »Ra«, seinen späteren Fahrten mit einem nach ägyptisch-phönizischem Vorbild gebauten Papyrusboot zu den Osterinseln, ist da noch gar nicht die Rede.

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