Die Stalinistin von der Themse

Margaret Thatcher und der Thatcherismus

  • Reiner Oschmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Mit Margaret Thatcher habe das Land, so Premier Cameron zum Tod der Eisernen Lady, »eine große Britin verloren«. Das ist wahr und auch wieder nicht. Es trifft zu, denkt man an die gesellschaftsverändernde Kraft, mit der die erste Regierungschefin eines westlichen Industrielandes Britannien umgekrempelt hat. Es ist aus der Sicht des konservativen Parteifreunds für die Amtsvorgängerin wahr mit Blick auf die Schneise der sozialen Verwüstung, die sie in ihrer Amtszeit (1979 - 1990) quer über die Insel schlug. Und die Eloge des heutigen für den gestrigen Tory ist verständlich angesichts von Skalps wie dem Sieg im Falkland-Krieg gegen Argentinien, dem Triumph über den Staatssozialismus im Kalten Krieg oder der Niederschlagung des großen Bergarbeiterstreiks. Die Iron Lady trug diese Trophäen stolz wie eine Spanierin.

Wenn »Maggie« Thatcher selbst in der Stunde ihres Todes von vielen Briten noch immer als Hassfigur beschimpft wird, hängt das damit zusammen, dass die lange Erfolgreiche bis heute in vieler Hinsicht eben auch als Verirrung vom britischen Politikverständnis betrachtet wird. Thatcher missachtete mit schriller Stimme und intolerant, humorlos und ohne Understatement Grundregeln britischen Auftretens. Sie war nie »cool« und distanziert, ein Grundgebot britischer Contenance. Allein darin wirkte sie oft deutscher als viele Deutsche, die ihr bis ans Lebensende verdächtig blieben.

Doch es war vor allem ihr politisch-wirtschaftlicher Kurs, der dem eigenen Land bis heute so unbritisch erscheint. Das erklärt auch, weshalb sie der einzige Prime Minister ist, der seinen Namen im 20. Jahrhundert einem -Ismus lieh. Es gab keinen Lloyd-Georgismus, keinen Wilsonismus, nicht mal einen Churchillismus. Aber es gab den Thatcherismus. Kein Mensch kann exakt sagen, was er ist. Das liegt daran, dass »eine Ideologie eben keine Wissenschaft ist« (Dürrenmatt). Eine Ideologie jedoch ist der Thatcherismus so sehr, wie Frau Thatcher Ideologin war. Die Krämerstochter aus Grantham sah sich stets als »Überzeugungs-«, nie als »Konsens-Politikerin«. Kompromisse waren ihr ein Gräuel. Sie interessierte allein, was sie für »richtig« hielt. Daraus ergab sich ihre frühe Einteilung in Menschen »für uns« und »gegen uns«. Darin zeigte sich ihre quasi stalinistische Grundhaltung. Der Thatcherismus ist insofern eine Art Stalinismus, hervorgegangen aus freien Wahlen.

Aber natürlich war er mehr. Er ist Symbol- und Sammelbegriff für radikale Privatisierungen, beispiellose soziale Kürzungen, den Abriss des Werte schaffenden Industriekapitalismus zugunsten ungebremster Anbetung eines bankengestützten Casinokapitalismus, für Politik der Stärke, der Aufrüstung und bei Bedarf des militärischen Abenteuers. Nicht zuletzt bedeutete Thatcherismus kompromisslose Härte im Umgang mit eigenen Parteigängern wie mit den Opponenten von Labour Party, Gewerkschaften und Bürgerrechtsverbänden, ganz besonders jedoch mit politischen Feinden, allem voran »dem Kommunismus«.

Thatcherismus hieß Polarisierung. Die Regierungschefin sorgte für die größte gesellschaftliche Spaltung, die Großbritannien nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte. Ihr Polarisierungspotenzial ist bis heute enorm und erklärt die teilweise unbritisch-heftigen Reaktionen auf ihren Tod. Verglichen mit ihr, so ein Kommentator, »wirkt selbst Tony Blair als Hassfigur wie eine Knallcharge, deren Versagen das Zerschlagen eines Bierglases nicht wert ist«.

Der Thatcherismus und seine Folgen machen deutlich, in welchem Umfang er Vorwegnahme und Vorbild für die Wirtschafts- und Sozial-, die Außen- und Sicherheitspolitik des Westens bis heute geblieben ist. Ein Vierteljahrhundert nach Thatchers Feldzug »kreativer Zerstörung«, seit dem es eine Finanzmafia in der City of London, aber keine verarbeitende Industrie von Rang mehr im einstigen Workshop of the World gibt, ist die Insel sozialpolitisch amerikanisierter und zerrissener als zuvor - mit rasant gewachsenem privaten Reichtum und grotesker öffentlicher Armut.

Die stalinistische Unerbittlichkeit und sture Entschlossenheit, die die Person auszeichneten, die Angriffe auf Freund und Feind, ihre oft bornierte Unbeirrbarkeit machten ein Gutteil Thatchers Faszinosums aus. Darin gründet ihr Beiname. Die sowjetische Nachrichtenagentur TASS hängte ihr die »Eiserne Lady« um, noch ehe sie Premier war. Sie vereinnahmte die ausgeteilte Beleidigung wie einen Ritterschlag - solchen Kollateralschaden hatte der Kalte Krieg bis dahin nicht erlebt.

Das »political animal« Thatcher machte den Thatcherismus zum intellektuellen Leitfaden für gesellschaftspolitische, wirtschaftlich-soziale sowie außen- und machtpolitische Nachfolgeprojekte in den USA und im Baltikum, in Italien, Frankreich und Argentinien, in Russland, der Ukraine und Deutschland. Die Eiserne Lady als Person hat sich erledigt. Ihre Patchwork-Politik exklusiver Marktanbetung ist à la mode. Margaret Thatcher, diese zielklare und in vielem engstirnige, diese nationalistisch wie imperialistisch handelnde Frau mit der Handtasche, die mit to handbag (jemanden verbal niederknüppeln) das Englische bereicherte und von der Biograf John Campbell erklärte: »Sie stritt immer, um zu gewinnen - nie, um Einsichten zu gewinnen«, diese Politikerin hat den Kältepol in die Wohnzimmer geholt. Der Thatcherismus glich einer Kulturrevolution. Deshalb wuchs ihm zu Recht der Rang eines »-Ismus« zu. Dass sich die politische Rechte lange nach Frau Thatchers Abgang, und nun nach ihrem Tod, noch immer von ihm beflügelt fühlt, sollte die Linke als Herausforderung sehen, dem Thatcherismus ähnliche Wirksamkeit, aber größere Toleranz, Menschenachtung und Gerechtigkeit entgegen zu setzen.

Der Autor (65), ND-Chefredakteur von 1992 bis 1999, war von 1981 bis 1985 Korrespondent der Zeitung in Großbritannien.

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