Die Schlacht unter dem Meer
Der Bestseller von 1913: Bernhard Kellermanns Roman »Der Tunnel«
Er hatte etwas Seltenes in der Hand. Samuel Fischer wusste es gleich. Er las ein neues Manuskript seines Autors Bernhard Kellermann, las mit immenser Freude und war noch begeisterter als im Sommer 1905, als ihm der junge Mann einen Künstler- und Liebesroman mit dem Titel »Ingeborg« angeboten hatte. Damals gratulierte er zu der »prachtvollen Dichtung«, noch ehe auch die letzten Seiten gelesen waren. Natürlich, schrieb er am 3. Juli 1905, drucke er den Roman »mit größtem Vergnügen«. »Ingeborg« erschien noch im selben Jahr in der »Neuen Rundschau« und Anfang 1906 auch als Buch. 1907 lieferte S. Fischer schon die sechste Auflage aus, 1911 die vierzehnte. Und auch die nächsten Bücher Kellermanns, »Der Tor« und »Das Meer«, hatten glänzende Verkaufszahlen erzielt.
Und nun diese Geschichte, ein wunderbares Stück Prosa, wie der Verleger fand. Der Titel sachlich und unspektakulär. Zwei Worte nur: »Der Tunnel«. Aber was für ein Stoff. Samuel Fischer schrieb seinem dänischen Freund und Autor Peter Nansen im August 1912 nach Kopenhagen, er werde demnächst ein Manuskript drucken, das »Sie unbedingt übersetzen lassen müssen«, einen »prachtvollen Roman«, der spiele in Amerika und behandele »den Bau eines Tunnels zwischen Amerika und Europa und die wirtschaftlichen und socialen Konsequenzen dieses Baus«. Den Mittelpunkt des Ganzen, schrieb er, »bildet eine spannende Erzählung«.
»Der Tunnel« erschien im April 1913. Die Druckmaschinen liefen noch, als Fischer seinem Kollegen Ernst Rowohlt erklärte, »daß dieses Buch ein ganz großer Erfolg werden müsse«. Da ahnte er noch nicht, dass die Resonanz all seine Erwartungen übertreffen würde. Er hatte großzügig geplant und zehntausend Exemplare herstellen lassen. Sie waren nach vier Wochen verkauft. Im Oktober waren's schon hunderttausend. Die Käufer rissen den Buchhändlern den Roman buchstäblich aus den Händen. Wenn er in die Verlagsexpedition kam, erzählte Kellermann, »wurde immer nur ›Der Tunnel‹ gepackt. Das Buch dominierte auch das Weihnachtsgeschäft 1913, weil Fischer gleich noch eine preiswerte Geschenkausgabe ausgeliefert hatte.
Kein anderer Autor konnte da mithalten. Kellermanns Roman war der Bestseller des Jahres (auch wenn man damals noch nicht von Bestsellern sprach). Und der Erfolg, bis dahin unerhört, hielt an. Dazu kam das ebenso stürmische Interesse des Auslands. In kurzer Zeit war das Buch in 24 Sprachen übersetzt.
Bernhard Kellermann, 1879 im fränkischen Fürth geboren, hatte 1904 mit dem Roman »Yester und Li«, der »Geschichte einer Sehnsucht«, debütiert und galt bis dahin als feinsinniger Stimmungs- und Seelenmaler, zart, schwärmerisch und immer auch ein bisschen melancholisch. Mit dem »Tunnel« gelang ihm etwas ganz Neues. Er kehrte dem Personal seiner bisherigen Geschichten den Rücken und fesselte mit einem Roman, der sich um ein Projekt der Zukunft rankte, »das größte und kühnste Projekt aller Zeiten«, die unterirdische Verbindung zwischen Amerika und Europa. Er schrieb einen Science-Fiction-Roman, ohne freilich den Boden der Realität zu verlassen.
Im Mittelpunkt der Ingenieur Mac Allan, »der erste Kopf der Welt«, so kühn wie besessen, einst Pferdejunge, später Erfinder eines Diamantstahls und von der Idee beherrscht, durch einen Tunnel tief unter dem Meer die schnelle Verbindung zwischen den Kontinenten zu schaffen. Der Plan, von den Zeitungen in aller Welt verbreitet, löst überall ein Fieber aus, dem niemand widerstehen kann, nicht die kapitalkräftigen Unternehmen, nicht die Spekulanten, auch nicht das Volk.
Die Idee verändert alles. Eine müde, erstarrte Welt wird aufgerüttelt und gefesselt von einer ungeheuren, so noch nie gedachten Aktion, »fortgerissen von dem sausenden Treibriemen, der um den Erdball fegte, und wer das Zittern bekam und den Atem verlor, stürzte ab und zerschmetterte und niemand kümmerte sich um ihn … Das Leben war heiß und schnell, wahnsinnig und mörderisch, leer, sinnlos. Tausende warfen es fort. Eine neue Melodie, wenn wir bitten dürfen, nicht die alten Gassenhauer!«
Für die neue Melodie hat dieser Mac Allan gesorgt, er treibt die Mitwelt aus dem Wartesaal des Vorkriegs, aus der Lethargie, dem Stillstand, er peitscht, ehrgeizig und skrupellos, sein Projekt voran, die Aktienkurse steigen und steigen, alle liegen ihm zu Füßen, machen mit, jubeln, spenden Geld, und ein riesiges Arbeiterheer holt im Tunnel das letzte bisschen Kraft aus dem Leib. Es ist wie im Krieg, der bald schon kommen wird.
Kellermann beschreibt die »Arbeitsschlacht«, beschreibt, wie man Wälder abholzt, Kraftwerke und Wohnsiedlungen errichtet, wie Menschen an beiden Enden des Tunnels bis zur Besinnungslosigkeit schuften, sich opfern im Kampf gegen den Berg unter dem Ozean, den mächtigen Gegner, der sich ihnen entgegenstellt.
Später wird man die Geschichte wie eine Vorwegnahme der großen Katastrophe lesen, die sich nicht unter, sondern über der Erde ereignete. Im Roman ist alles zu finden, was auch zur Szenerie der Jahre 1914 bis 18 gehören wird. Die Einpeitscher sind da, die erst euphorischen, dann entsetzten Massen, die Konzerne mit ihren Milliardengewinnen, die Heerscharen der gehetzten, erschöpften, kaltblütig geopferten Männer. Schließlich, im siebenten Jahr, kommt es zur Tragödie, zum großen Unglück. Das Werk wird durch eine Explosion, die dreitausend Menschenleben kostet, zerstört. Nun revoltieren die Massen, sie ballen die Fäuste, stehen auf, wehren sich in blinder Wut, man streikt und demonstriert, Frau und Tochter Mac Allans werden gesteinigt. Der gibt, ein geborener Demagoge, die Schuld an allem dem Schicksal: »Das Schicksal ist stärker als ein Mensch. Die Arbeit hat die dreitausend getötet! Die Arbeit tötet täglich auf der Erde Hunderte! Die Arbeit ist eine Schlacht und in einer Schlacht gibt es Tote!«
Der Tunnelbau ruht lange, Mac Allan muss ins Gefängnis, aber am Ende, nach 26 Jahren, wird das Werk doch noch vollendet, die Bahn benötigt von Europa nach New York nun lediglich 24 Stunden, aber da ist der gefeierte, mit enormen Opfern erkaufte Fortschritt längst von der Realität überholt. Über der Erde, in den Lüften, ist man schon schneller. Flugzeuge brauchen für die Strecke nur die Hälfte der Zeit.
»Der Tunnel« war das Buch, das Kellermann am meisten liebte. Es ist auch sein populärstes geblieben. In diesem Roman fanden Leser alles, was ihre Träume beflügelte, den Glauben an die Wunder der Technik, an die menschliche Kraft, aber auch die Skepsis, die mit der rasanten Entwicklung einherging. Noch im August 1913 wurde extra, um die Geschichte auch auf die Leinwand zu bringen, eine Filmgesellschaft gegründet. Im Jahr darauf lief das Tunnel-Drama schon in den Kinos. Es hat das Interesse am Roman noch einmal kräftig befeuert.
Heute ist dieser Bernhard Kellermann, der vor hundert Jahren ein Weltautor wurde, so gut wie vergessen. Weit und breit ist nicht einmal eine Jubiläumsausgabe seines Buches zu sehen. Dabei war's ja nicht nur der Riesenerfolg von 1913, der ihm einen Platz unter den großen Autoren des Jahrhunderts sicherte. Auch danach, mit seinen Romanen »Der 9. November« (1920) oder »Die Stadt Anatol« (1932), hat er seinen Ruf, ein bedeutender, fesselnder Erzähler zu sein, gefestigt. Das blieb so bis 1933. Die Nazis warfen ihn noch im Mai aus der Preußischen Dichterakademie, sein Buch über die Novemberrevolution, eine Abrechnung mit dem deutschen Militarismus, wurde verboten, er überlebte die dunklen Jahre, wegen angeblich »nicht-arischer« Herkunft immer wieder angegriffen, zurückgezogen und mit einer »festgefrorenen Zunge« in Werder bei Potsdam, schrieb ein paar harmlose Unterhaltungsromane und wurde 1945 von Offizieren der Roten Armee, die seinen Namen auf einem Schild am Gartentor entdeckten, aus seiner misslichen Lage befreit.
Man brachte Kellermann nach Berlin, wo er mit Johannes R. Becher den Kulturbund gründete, dessen Vizepräsident er dann war. Er schrieb noch einmal einen Roman, »Totentanz« (1948), ein Buch, das sich mit der Nazibarbarei und dem Verhalten der Deutschen auseinandersetzte. Es endete mit dem Satz: »Ja, laß uns anfangen von Sühne zu sprechen.« Dem Schriftsteller falle in diesen Tagen die Aufgabe zu, erklärte er in der »Täglichen Rundschau«, »das Volk aufzuklären über alle Irrnisse und Wirrnisse der letzten Jahre, über Versäumnisse und Unterlassungen, Vergehen und Frevel«. Er war mit großem Einsatz dabei, schrieb Artikel und Aufsätze, scheute auch das Pathos nicht, erhielt 1949 den Nationalpreis, gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Akademie der Künste und starb, hochgeschätzt, im Oktober 1951 in Klein-Glienicke. Man hat ihn in Potsdam begraben.
Der Westen verzieh ihm das alles nicht. Wer sich für den Osten entschied, durfte auf sein Wohlwollen nicht hoffen. Kellermann wurde ignoriert, ausgesondert. Daran konnte weder der frühe Suhrkamp-Verlag, der 1948 den »Tunnel« und »Die Stadt Anatol« in einem Band herausbrachte, noch die noble »Tunnel«-Ausgabe des Deutschen Bücherbunds aus den achtziger Jahren etwas ändern. In der DDR war er einer der vielgelesenen, in hohen Auflagen immer wieder gedruckten Autoren. Dort, im Verlag Volk und Welt, ist zwischen 1973 und 1979 auch die einzige Edition erschienen, die in einer zehnbändigen Auswahl der wichtigsten Romane, Erzählungen, Reportagen und Aufsätze ein umfassendes Kellermann-Bild bietet.
Kellermann gehörte einer neuen Generation an; er sah mit neuen, weltoffenen Augen. Er fuhr nicht auf ›Vortragsreisen‹, sondern um zu lernen. Als er von seiner ersten Amerikafahrt zurückkehrte, hatte er den lyrisch-romantischen Grundton seiner Jugendwerke abgestreift und sich der Wirklichkeit des zwanzigsten Jahrhunderts und den technischen, sozialen, politischen Problemen der Zeit zugewandt, und das erste Buch, das aus dieser neuen Weltsicht entstand, war ein Zukunftsroman, der Fischer einen Sensationserfolg brachte.
Peter de Mendelssohn
Man sah das Buch an allen Wagen der Untergrund-, Stadt- und Straßenbahn. Selbst ein so vielbeschäftigter, in technischen Dingen erfahrener und anspruchsvoller Mann wie Walther Rathenau erzählte uns, daß er das Buch in einem Zuge ausgelesen habe.
Oskar Loerke
»Das Leben war heiß und schnell, wahnsinnig und mörderisch, leer, sinnlos. Tausende warfen es fort. Eine neue Melodie, wenn wir bitten dürfen, nicht die alten Gassenhauer!«
Bernhard Kellermann
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