Weitere Fragen zwecklos
Natalja Bandurko spricht nur ungern über den 26. April 1986 in Tschernobyl
Sie spricht nie darüber, warnt mich ihre Tochter Polina, »Das Thema ist tabu. Es bringt meine Mutter aus der Fassung und macht sie traurig.« Natalja Bandurko wohnt in Stawropol, im Süden Russlands, zusammen mit ihrem Mann Waleri und Tochter Polina. Sie besitzen ein kleines Zoogeschäft, eine Drei-Zimmer-Wohnung, ein Auto und eine Perserkatze. Sehr gastfreundlich, sind sie vom Alltag gelegentlich beunruhigt, versuchen sich gesund zu ernähren, führen also ein ganz normales Leben. Nur engste Freunde und Verwandte wissen, dass Natalja, die ständig Scherze macht und andere Menschen neckt, sehr gut kocht und vorm Schlafengehen ein Stündchen vor dem Fernseher hockt, ein Geheimnis hütet, eine persönliche Tragödie, die sie seit 27 Jahren nicht loslässt.
Irgendwann, nach ein paar Tagen, sagt Polina dann doch: »Meine Mutter wird darüber reden. Aber bitte vorsichtig, man darf sie nicht mit Fragen überrennen.«
»Es war wie in einem Horrorfilm«
Natalja kommt in Polinas Zimmer, nimmt einen Stuhl und stellt ihn in die Mitte, wie bei einem Verhör. Das Lächeln ist aus ihrem Gesicht verschwunden. »Was wollen Sie wissen?«, fragt sie unsicher und fängt sofort an zu erzählen, offensichtlich um Fragen zu vermeiden. »Ich war Stellvertreterin des Sekretärs für ideologische Arbeit beim Komsomolkomitee in der Verwaltung des Kernkraftwerkbaus. An jenem Tag sah ich die Feuersäule, und sie war riesig, wie ein Brenner. Doch niemand wusste etwas von der Explosion. Später wurde uns mitgeteilt, dass wir evakuiert werden. Nur für drei Tage. Bei der Evakuierung gab es keine Panik, alles verlief ruhig.« Natalja macht keine Pausen. Es scheint, als sei sie gar nicht anwesend, als sprächen allein ihre Gedanken. »Und für bloß drei Tage, man durfte nur das Nötigste mitnehmen, also Kleidung und Geld. Ich hatte nur eine Jeans, eine Bluse und ein Sweatshirt an. Aber erst Anfang August durften wir zurück, um die Sachen zu holen. Am Kontrollpunkt gaben sie uns spezielle Kleidung, Kittel, Kniestrümpfe und Kopfbedeckungen, und dann wurden wir mit kleinen Bussen zu unseren Häusern gefahren. Es war verboten worden, die Kühlschränke zu öffnen. Ich bekam 30 Minuten Zeit und etwa fünf große Zellophansäcke.«
Natalja verhaspelt sich und legt nun doch eine Pause ein. In ihren großen, runden Augen scheinen Tränen zu stehen, vielleicht ist es auch nur ein Spiel des Lichts. Aber sie strahlen Schmerz und Angst aus. »Es war wie in einem Horrorfilm. Ich war ganz allein in dem sechzehnstöckigen Haus und hatte Angst. Es gab keinen Strom und es war schrecklich, allein in völliger Dunkelheit die Treppe hochzusteigen. Ich fürchtete mich auch, meine eigene Wohnung zu betreten. Ich steckte Vorhänge, Kleidung und irgendwelche Sachen in die Säcke und ging schnell nach unten, wo ich vom Bus abgeholt wurde. Am Kontrollpunkt wurden alle Sachen mit Geigerzählern geprüft. Bei mir ›klingelten‹ nur die Tüllvorhänge, daher musste ich sie abgeben. Auch meinen kleinen Farbfernseher durfte ich nicht mitnehmen.« Natalja atmet tief aus, das Schlimmste hatte sie jetzt hinter sich.
»Man musste ganz von vorne anfangen«
»Zuerst bekam ich einen Schadenersatz von 400 Rubel. Damals lagen die Löhne bei etwa 120 Rubel. Auch einen Scheck für eine Reise ans Schwarze Meer gaben sie mir, weil ich bei der Beseitigung der Katastrophenfolgen nicht von Nutzen sein konnte. Im August gab es eine Nachzahlung, diesmal 4000 Rubel. Ich kaufte mir eine bulgarische Weste, die jetzt auf dem Balkon hängt.« Sie geht in das große Zimmer und zeigt auf eine Schrankgarnitur, die über die Jahre ihren Glanz verloren hat: »Die habe ich mir auch gekauft. Wenn ich damals eine Familie gehabt hätte, hätte jeder Angehörige etwa 3000 Rubel bekommen. Doch ich war allein. Es war sicherlich viel Geld, aber man musste ganz von vorne anfangen: Möbel, Kühlschrank, Geschirr, Kleidung, einfach alles neu beschaffen. Dazu brauchte man eine Wohnung. Allein der Eintrag im Arbeitsbuch, dass ich dort gearbeitet hatte, begründete keinen Anspruch auf eine neue Wohnung. Man musste eine spezielle Bestätigung dafür besitzen, dass man in der evakuierten Zone gelebt hatte. Ich hatte den Nachweis, dass ich dort eine Einraumwohnung zurückgelassen habe, und bekam eine neue.«
Aus einer Schublade holt Natalja einen roten Anstecker. In goldener Schrift steht darauf: »Wahlversammlungskonferenz des Komsomol. Pripjat 1984.« »Die wurden damals in einer kleinen Auflage angefertigt. Ich brauche ihn nicht mehr, auch ohne dieses Abzeichen habe ich genügend Erinnerungen.« Natalja beendet den Satz und damit auch unser Gespräch. Zwecklos, sie weiter zu befragen. Ihr Blick geht durch die Schrankwand und die Hauswände. In Gedanken ist sie beim 26. April 1986, bei der Katastrophe von Tschernobyl.
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