Ein Leben (nur?) als Zuschauer
50. Theatertreffen Berlin: Was soll, was kann, was will Theaterkritik? Zumal in diesen Zeiten?
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Ein Bekenntnis abzulegen, nach mehr als einem halben Jahrhundert theaterkritischer Arbeit - geht das überhaupt, kurz und bündig? Wenn ja, kann es nur ein Versuch sein, über diesen merkwürdigen publizistischen Dialog zwischen einer Gruppe künstlerisch Tätiger und einem Individuum subjektive Erfahrungen mitzuteilen.
Der Kritiker setzt sich mit einem Ereignis auseinander, das einmalig und mit dem Fallen des Vorhangs für immer vorbei ist. Er muss es ins Leben zurückholen, wenn auch nur ins »gedruckte« Leben, er hat die Macht über das vorübergegangene Ereignis. Wie er sich dieser Macht bedient, ist allein seine Angelegenheit. Das begründet eine Verantwortung, deren sich der Schreibende immer bewusst sein muss.
Herbert Ihering (1888-1977), den ich noch kennenlernen durfte, hat notiert: »Ich betrachte die Kritik nicht als Selbstzweck für feuilletonistische Kunststücke.« Und der kundige Begleiter des Theaters über viele extrem unterschiedliche politische und künstlerische Bedingungen des zwanzigsten Jahrhunderts hinweg fügte diesen Satz an: »Die Kritik ist nicht um ihrer selbst willen, sondern um ihres Gegenstandes willen da.«
Dieser Grundsatz konnte verpflichtend sein, so lange Theater und Kritik sich in gesicherten materiellen Bahnen bewegen durften. Ich war in solchen vergangenen Zeiten verstiegen genug, mich als Kritiker auch als Theaterschaffender zu fühlen. Als einer, der versucht, das, was Regisseure, Schauspieler, Bühnenbildner machen, unvoreingenommen an die Leser zu übermitteln. Vielleicht eine Grenzüberschreitung.
Noch realitätsferner war wohl meine Idee, Theater könne in der Gesellschaft, die es beherbergt, etwas bewirken, produktive Erfahrungen einbringen und befestigen. Aber jeder Utopie wohnt ein Zauber inne. Und ich hatte davon geträumt, die Leser mit dem ebenfalls flüchtigen, tagesgebundenen Bericht über dieses oder jenes Theaterereignis in ihrer Lebensumwelt zu erreichen, ihnen etwas zu geben, was über den Alltag hinausreicht.
Immerhin war es ja Bertolt Brecht, der den Kritikern eine schöne, vertrackte Aufgabe stellte, nämlich die »Zuschaukunst« zu entwickeln, Neugier auf und Vergnügen an Theater herauszufordern. Sollte es also nicht möglich sein, eine Kritik so zu schreiben, dass der Leser, auch der, der die Aufführung nicht gesehen hat, einen sinnlichen Eindruck von ihr bekommt? Die brillant formulierte Selbstdarstellung, eben das feuilletonistische Kunststück, führt da nicht zum Ziel.
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Weit wichtiger ist doch, und das kann man von Herbert Ihering besonders gut lernen, eine unbestechliche Beobachtungsgabe, die Fähigkeit, vom Einzelnen in große Zusammenhänge zu kommen. Und noch einmal Brecht. Die geradezu flehentliche Bitte des Meisters, der Kritiker möge doch bitte genau hinsehen und ebenso genau beschreiben, was auf der Bühne zu sehen war, ist alles andere als eine Marotte.
Nur genaue Beschreibungen machen eine Aufführung »aufhebbar« im geschichtlichen Sinne, weit über die Zeit hinaus also, in der sie entstanden und gespielt worden ist. Was wir über das Theater naher oder fernerer Vergangenheit wissen, stammt aus solchen genauen Beobachtungen, in welcher Form und zu welchem Zweck sie auch immer zu Papier gebracht worden sind. Das macht Mühe und entzieht sich selbstverliebter Wichtigtuerei.
Es mag eine Abschweifung sein und ist doch keine. Zu allen Zeiten stehen die Kritiker in der Schuld der Schauspieler, im Schatten vor allem der Regisseure. Aber - wer »macht« das Theater, wer steht auf der Bühne, wenn der Regisseur längst weg ist, wer hält seinen Körper hin, wer entblößt seine Seele, sein ganzes Selbst? Deshalb habe ich stets versucht, den Darstellern mit Achtung und Aufmerksamkeit zu begegnen. Wer die »Gaukler« nicht mag, sollte die Finger von Theaterkritik lassen. Es ist beflügelnd für den Kritiker, wenn es in seltenen Glücksmomenten meisterlicher Aufführungen gelingt, gleichsam mit den Schauspielern und ihren Rollen zu leben, alle Unterschiede zwischen Bühne und Zuschauerraum zu vergessen. Die Liebe zu den Komödianten darf durchaus auch mal parteiisch sein - Begeisterung lässt sich nicht immer ins Sachliche zurückholen.
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Die Möglichkeiten, die es für die Beschreibung schauspielerischer Leistungen in vergangenen Jahrzehnten gegeben hat, sind heute so eingeschränkt wie vieles andere auch. Die verständnisvolle, einfühlsame, ausführlich beschreibende, gründlich wertende Theaterkritik? Tempi passati. So gut wie alle Theaterschaffenden kämpfen heute um ihre soziale Existenz. Und die meisten Kritiker außerhalb des »hohen« Feuilletons der wenigen großen Zeitungen auch. Das verschiebt die Fronten, das schafft völlig neue Verhältnisse. Ein gnadenloses ökonomisches Effizienzraster überzieht alles.
Was soll da noch Theaterkritik? Die meisten Printmedien sind gar nicht mehr in der Lage, Kultur-Journalisten, gar gut ausgebildete, zu bezahlen. Wer über Theater schreiben darf oder soll, steht so arm da, wie es die meisten Theater sind. Also kommt es zu einem heftigen Wettbewerb. Die Theater brauchen den größtmöglichen Publikumserfolg, um das ökonomische Scheitern aufzuhalten. Und haben dafür von Spielzeit zu Spielzeit, von Jahr zu Jahr weniger Geld und weniger Personal zur Verfügung.
Die Kritiker, wenn ihnen denn Raum für ihre Arbeit gegeben wird, müssen eben die feuilletonistischen Kunststücke machen, von denen hier die Rede war. Subjektives Auftrumpfen ist jetzt gefordert, es geht ums Überleben.
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Und doch, Aufgeben gilt nicht. Noch gibt es gutes Theater - an den großen Bühnen, und gerade an vielen kleinen, oft weit weg von Berlin. Mit welchem Einsatz, welcher Leidenschaft in der »Provinz« gearbeitet wird, ist in den kulturellen Zentren kaum vorstellbar …
Aber hier sollte ja von Theaterkritik die Rede sein. Und da gilt für mich, offen zu bleiben, neugierig und nichts als neugierig auf jeden, der mit Qualität und Anspruch die Bühne erobern will. Ohne diese Neugierde wäre eine jahrzehntelange Arbeit für das Theater nicht möglich. Selbst wenn die Gefahr, enttäuscht zu werden, im Laufe einer langen Zeit wächst.
Man muss versuchen, sich gegen das Verherrlichen lange vergangener großer Theaterabende zu immunisieren. Es gibt nichts Neues auf der Erde? Dann allerdings wäre der Zeitpunkt da, aufzuhören. Nein, die Aufgabe bleibt, immer wieder zu Naivität zurückzufinden, frisch und aufnahmefähig zu bleiben, auch wenn die Zeiten so hart geworden sind. Zugegeben, dem Älteren fällt es nicht immer leicht, die ganz andere Theatersprache der Jüngeren und Jungen zu verstehen, sich in sie »einzuhören«. Aber es macht doch den Reiz des Theaters aus, dass es seine Kraft immer wieder aus den Spannungen zwischen den Generationen bezieht.
Vielleicht ist heute der Gegensatz zwischen den Künstlern und den Schreibenden größer geworden, weil da jeder für sich kämpfen muss. Und doch sind sie vonein-ander abhängig.
Theater ohne Kritik mag noch möglich sein - Kritik ohne Theater nicht. Für mich bleibt deshalb die Neugierde entscheidend, die Lust auf die nächste Premiere, gerade wenn sie widrigen Umständen abgetrotzt ist. Theater anzugreifen ist billig, dem Theater Lebensräume zu erhalten, in denen Brechts »Zuschaukunst« heimisch sein kann, die lohnende Aufgabe.
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