Probleme mit der Wahrnehmung

Tagung des deutschen PEN-Zentrums in Marburg mit Neuwahl, aber wenigen Lesungen

  • Ralph Grüneberger
  • Lesedauer: 3 Min.

Berühren erwünscht« steht auf der maßstabsgetreuen Bronzeplastik des historischen Zentrums von Marburg. Ein Motto, das neben dem von Büchner über der diesjährigen Tagung des deutschen PEN-Zentrums stehen könnte. Denn »berührt« wurden Interna wie die Wahl eines neuen Präsidenten. 2000 übergab Christoph Hein das Zepter an Said, Said 2002 an Johano Strasser, der den Stuhl des Generalsekretärs mit dem des Präsidenten tauschte. 2013 hatten die Teilnehmer der Tagung eine wirkliche Wahl. Für das Präsidentenamt gab es zwei Hauptkandidaten. Josef Haslinger erzielte vor Ursula Krechel die Mehrheit der Stimmen.

Ein Glück für das deutsche PEN-Zentrum war im vergangenen Dezennium, dass Johano Strasser ein hervorragender Präsident und Herbert Wiesner ein überaus fähiger Generalsekretär waren. Die Nachfolger Haslinger, als Präsident, und Regula Venske als Generalsekretärin treten in ausgeprägte Fußstapfen.

Mit Haslingers Wahl waren nicht alle zufrieden. Das zeigt ein Beitrag, den SPIEGEL-online am vergangenen Samstag unter Kürzel veröffentlichte. Der Autor verunglimpft den Direktor des Deutschen Literaturinstituts in Leipzig als Zuchtmeister, der dort angeblich literarische Langeweile verbreitete -, und damit Hunderte von Absolventen gleich mit. Dass er dann den PEN-Club als »Schriftstellerverband« bezeichnet, der »sieche«, wärmt alte Muster auf. Bereits unter der Präsidentschaft von Heinrich Böll wurde der »PEN-Klub als Opas Verein« bezeichnet.

Gewiss ist das Bild des deutschen PEN weder »hip« noch Neugier erweckend, obgleich diese in Deutschland rund 800 Mitglieder zählende Vereinigung von »Poets, Essayists, Novelists« so viel Anziehungskraft besitzt, dass sich zahlreiche Autorinnen und Autoren zweiter, dritter, vierter, fünfter Bücher einer Zuwahl stellen. Doch die Überalterung der Mitglieder ist fortschreitend, und die Neumitglieder, das hat die Anzahl der diesjährigen Nachrufe verdeutlicht, erhalten gerade mal so den Status.

Wohl deshalb gehörte zu den Angelegenheiten, die in Marburg »berührt« wurden, auch die Klage über die unzureichende Wahrnehmung. Dabei ist ein Großteil der PEN-Mitglieder zu den Öffentlichkeitsarbeitern zu zählen, die viel mehr Sorge tragen müssten, dass Aktivitäten wie das »Writers in Prison-« oder das »Writers in Exile-Programm« bekannter werden. Verfolgte Schriftstellerkollegen als Stipendiaten auf Zeit zu unterstützen, gehört zu den edelsten Aufgaben des deutschen PEN.

So standen auch diesmal Themen wie Folter, Inhaftierung, Exil, Vertreibung, eingeschränkte oder verhinderte Meinungs- und Informationsfreiheit in anderen Ländern auf der Tagungsordnung. Mitglieder wie der bisherige Beisitzer Lutz Götze oder der Ungar Imre Török schilderten die aktuelle Situation in Budapest. Die im Plenum hervorgerufenen Emotionen und aufgezeigten Parallelen zur Weimarer Republik mündeten in eine Entschließung, die das Präsidium in Kürze zur Druckreife bringen wird. Die »Wortarbeiter« hatten einfach zu viele Änderungsvorschläge.

Dass das deutsche Zentrum des Internationalen PEN eine überaus große Zahl an Geistes- und Schöngeistesgrößen vereint, die als Autorinnen und Autoren im Ausland und in Maßen auch im Inland Wertschätzung erfahren, hat diese Tagung leider nicht zu vermitteln vermocht. Die rund 80 000 Einwohner zählende Universitätsstadt kann, wie es Oberbürgermeister Egon Vaupel bei seiner Begrüßung hervorhob, auf 23 000 Studierende verweisen und auf weitere 12 000 in Ausbildung befindliche Menschen, also auf einen großen Bildungsüberbau. Und doch gab es während der PEN-Tagung nicht eine einzige Lesung in einer der vielen (!) Buchhandlungen der Stadt, nicht an Schulen oder, was selbstverständlich erscheinen würde, an der Universität.

Wenigstens hat es eine öffentliche Erinnerung an an die Bücherverbrennungen gegeben, die vor 80 Jahren in vielen deutschen Universitätsstädten stattfanden. Auf dem Marburger Kämpfrasen zog, wie die Oberhessische Zeitung am 11. Mai 1933 berichtete, »eine unzählbare Menschenmenge«, um »die undeutschen Schriften den Flammen [zu] übergeben«.

Dieser verfolgten, verfemten, ihres Besitzes und ihrer Heimat beraubten Autorinnen und Autoren zu gedenken, war deshalb gerade in der Universitätsstadt Marburg geboten.

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