»Ich aber ging zum Essen«
Die Schwierigkeiten des Erinnerns - sieben Jahrzehnte danach
»Ich aber ging zum Essen.« Wenn der Pastor Hans Richard Nevermann diesen Satz sagt, schwingt das Bewusstsein seiner Schuld mit: der Schuld einer Unterlassung. Er ist nicht eingeschritten, und daran leidet er noch heute.
Es geht um die Erinnerung der Deutschen an ihre Rolle als Opfer und Täter. Jetzt, 80 Jahre nach der Machtergreifung der Nazis, gibt es unzählige Projekte, die sich der Erinnerung der letzten Überlebenden widmen - ob jener der Konzentrationslager, des jüdischen Alltags in Deutschland oder der einfachen Deutschen. Gerade so, als ob niemand zuvor diese Menschen gefragt hätte. Was wahrhaftig nicht so ist.
Die Hamburger Körberstiftung hat schon in den 70er Jahren in ihrem Schülerwettbewerb Deutsche Geschichte das Thema »Alltag unterm Hakenkreuz« gestellt, gleich zweimal, woraufhin unzählige Jugendliche die Alltagsgeschichte ihres Ortes in der NS-Zeit erforschten. Wenn heute das ZDF und das Magazin »Stern« behaupten, die letzten Zeitzeugen in einem großen Projekt befragen zu wollen, dann frage ich mich tatsächlich, was Neues herauskommen soll. Die Opferrolle der Deutschen ist ausführlich dokumentiert; ebenso, welche Verbrechen sie begangen haben. Aber was die Täter zu sagen sagen hätten, darüber wissen wir wenig.
In Neustadt (Schleswig-Holstein) etwa sind am 5. Mai zwei Schiffe, die vollgestopft waren mit Häftlingen vor allem aus dem KZ Neuengamme, versehentlich von britischen Flugzeugen bombardiert worden. Die Piloten glaubten, dass die Schiffe Soldaten transportierten. Die meisten Häftlinge ertranken, einige aber konnten sich ans Ufer retten, wo sie von SS-Leuten und von Hitler-Jungen aus dem Ort abgefangen und wenige Stunden vor der Befreiung erschossen wurden.
Die Hamburger Anwältin Barbara Hüsing hat deshalb Strafanzeige gestellt; das Ermittlungsverfahren ist seit über 20 Jahren anhängig. In Neustadt leben wahrscheinlich noch heute Beteiligte an diesen Erschießungen sowie Zeugen. In all den Jahren hat niemand darüber gesprochen. Wahrscheinlich weil sie sich nicht einmal schuldig fühlen. Solche Geschichten gibt es viele. Die Täter und die Zuschauer sind einfach nach dem Krieg in ein bürgerliches Leben untergetaucht. Glaubt irgendjemand, dass sie jetzt plötzlich sagen »Ja, ich bin's gewesen«?
Ich selbst arbeite seit fast 30 Jahren mit Zeitzeugen, ob mit »normalen« Deutschen oder Überlebenden der Konzentrationslager, und ich weiß, wie schwierig es ist, Schuld zuzugeben - noch schwieriger, darüber zu sprechen Dabei ist es erstaunlich, warum der eine Mensch Schuld empfindet und der andere nicht. Gerade die Überlebenden der Konzentrations- und Vernichtungslager fühlen sich oft schuldig, weil sie überlebt haben und ihre Verwandten und Kameraden im Lager nicht. Als ob sie auf Kosten anderer überlebt hätten.
Ich erinnere mich einer Reaktion des damaligen Direktors der Gedenkstätte von Auschwitz Kasimierz Smolen, der 1941 als einer der ersten Häftlinge nach Auschwitz kam und dort vier Jahre blieb. In dieser Zeit war er Mitglied einer geheimen Widerstandsorganisation, der Kampfgruppe Auschwitz, und riskierte so täglich sein Leben. Aber als ein Jugendlicher ihn später naiv fragte, wie er es geschafft habe, so lange in Auschwitz zu überleben, wehrte er gereizt ab: »Soll ich mich dafür entschuldigen, dass ich noch lebe?«
Dieser eingebildeten Schuld der Opfer steht die verdrängte Schuld der Täter gegenüber. Mein Vater wurde 1944 eingezogen. Er hatte sich ein Jahr lang dem Gestellungsbefehl entzogen, in dem er Verwandte besuchte und der Befehl immer hinter ihm her reiste. Hinter geschlossenen Vorhängen lernte er den Swingtanz. Der Krieg muss schrecklich für ihn gewesen sein. Nach einem halben Jahr wurde er schwer verwundet. Ich erinnere mich, wie er in meiner Kindheit immer wieder mit hohem Fieber auf der Couch lag, weil wieder ein Granatsplitter aus seiner Fußwunde herauseiterte. Den Geruch der schwarzen Zugsalbe habe ich bis heute in der Nase.
Er war ein Opfer des Krieges, dennoch quälten ihn geheime Schuldgefühle, die manchmal in irrationalen Fantasien ausbrachen. Dann prophezeite er ein Ende der Demokratie und eine Rückkehr der Konzentrationslager, in denen wir alle landen würden. Offensichtlich fand er in diesen düsteren Momenten, dass er dahin gehörte. Ich habe nie herausgefunden warum.
Hans Richard Nevermann wiederum war in jungen Jahren Funktionär der Hitler-Jugend. Als Wehrmacht-Offizier wurde er in der Schlacht von Stalingrad schwer verwundet. Er habe unter seinen Kameraden damals viel Feigheit erlebt, nicht nur weil sie ihn im Stich ließen. Stattdessen halfen ihm russische Bauern. Aber ein Arm war nicht mehr zu retten. Nach dem Krieg inhaftierten ihn die sowjetischen Alliierten für zwei Jahre in Buchenwald. Dort fand er zum Christentum.
Als evangelischer Pastor war er 1958 Gründungsmitglied der evangelischen Organisation Aktion Sühnezeichen. Er leitete eine erste Gruppe junger Leute, die in Norwegen halfen, ein Kinderkrankenhaus zu bauen. Erst Jahre nach dem Krieg erinnerte er sich einer Begebenheit, die ihn noch heute sich schuldig fühlen lässt. Auf dem Weg nach Woronesch sah er vom Zug aus Schemen am Bahndamm, die sich bewegten. Heute ist er sich sicher, dass es sich um Opfer einer Massenerschießung handelte. Damals kümmerte er sich nicht weiter darum. Das lässt ihn noch immer nicht los. Was er denn hätte tun können, fragte ich Hans Richard Nevermann, als er mir das erste Mal davon berichtete: »Ich hätte die Notbremse ziehen können oder fragen, was dort los war. Ich hatte ein hohe Funktion, mir wäre nichts geschehen. Ich aber ging zum Essen.«
Die Autorin arbeitete 1984/85 als Freiwillige in der Gedenkstätte Auschwitz und beschäftigt sich seit Jahrzehnten journalistisch mit der NS-Diktatur und ihren Folgen.
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