Die Dämmerung in uns
Schauspiel Köln zeigt Mayröckers »Reise durch die Nacht«
Die britische Regisseurin Katie Mitchell ist ein Phänomen. Davon kann man sich an der Berliner Schaubühne überzeugen, wo sie nach »Fräulein Julie« das Depressionsstück »Die gelbe Tapete« inszenierte. Faszinierende Traumstücke in karger technischer Gerätelandschaft. In diesem Zugleich bewegt sich auch dieser Abend beim Theatertreffen, der vom Schauspiel Köln kommt - Friederike Mayröckers »Reise durch die Nacht«. Ein Monolog der Einsamkeit, Fahrt im Schlafwagen durch unbekannte Landschaft. Dabei auf ungute Weise hellwach, überreizt, mit nächtlichen Tagträumen.
Mitchell hat die Methode des Theater-Live-Drehs perfektioniert. Wir sitzen im Zuschauerraum wie in einem Fernsehstudio mit lauter Kameras, Kulissen und Technikern. Nichts wird hier versteckt von all der Künstlichkeit der Traumwerkstatt. Über die ganze Bühnenbreite steht quer vor uns die Außenfront eines Schlafwagens. Wie auf dem Bahnsteig wartend, blicken wir in die Abteilfenster. Innen und Außen scheinen dabei anfangs streng getrennt. Denn nichts trennt stärker vom Leben als eine Glasscheibe, durch die kein Lufthauch dringt. Wenn hinter der Glasscheibe jemand etwas sagt, dann bedarf es der Synchronisation. Auch die Sprecherin in ihrer Kabine ist jederzeit sichtbar. Nichts wird versteckt und dennoch ist hier pures Geheimnis.
Friederike Mayröcker schrieb die Erzählung in den 80er Jahren als einen großen Monolog, in dem sich Raum und Zeit verweben. Ein klar blickendes Delirium der Selbstwahrnehmung; Blick auf den Grund einer Schreib- als Lebenskrise. Wer denkt da nicht an Antal Szerbs »Reise im Mondlicht« oder Novalis' »Hymnen an die Nacht« - hier jedoch unter multimedialen Bedingungen. Hoch über dem quer gestellten Waggon mit den Abteilfenstern läuft, ebenfalls auf ganzer Bühnenbreite, ein Film, in dem wir das noch einmal vergrößert sehen, was wir unten bereits direkt vor Augen haben. Der Live-Moment verdoppelt sich, immer läuft der Erinnerungsfilm schon mit. Erst wenn dieser aufhört, dann endet die Reise durch diese Nacht nicht im nächsten Morgen, sondern im ewigen Dunkel.
Wiederum überrascht an Katie Mitchells Art, Theater als High-tech-Unternehmen zu betreiben, welch ursprüngliche Kraft des Spiels dabei freigesetzt wird. Mitten im für Theaterverhältnisse unerhörten Einsatz von Technik, inmitten der Betriebsamkeit des auf hohen Touren laufenden technischen Apparats entsteht in seinem Zentrum ein großes Schweigen. Das darf man einen magischen Akt der Verwandlung nennen. Denn plötzlich gehen Innen und Außen in dieser Zugabteilszenerie doch ineinander über, so wie Traum und Realität während einer nächtliche Bahnreise. Das ist das Mysterium der Erinnerung: einige wenige zuverlässige Bilder im Kopf, sekundiert von Fotos, die von all den gelebten Tagen bleiben. Lauter Bruchstücke, die zusammenzusetzen wir tief hinabtauchen müssen in die Dämmerungszustände zwischen Tag und Nacht. »Ich könnte auf meine Vergangenheit verzichten, aber ich würde am liebsten noch einmal beginnen.«
Das Ich, so stellt sich dabei heraus, sind viele: Und so ist die Frau im Schlafwagenabteil, die wir sehen, auch nicht einfach eine zu spielende Rolle, sondern getrennt in Bild (Julia Wieninger) und Stimme (Marie Kröger). Die Frau im Abteil ist nicht allein, ein fremder Mann reist mit ihr, darum ist sie doppelt allein. Die Kamera erlaubt uns hier, von ganz nah ins Gesicht zu blicken. Dann wieder blicken wir Zuschauer wie Passagiere desselben Zuges zusammen mit der Frau in die Nacht. Die Lichtpunkte, die dabei vorbeifliegen und noch im Inneren des Abteils als ein fern flackerndes Licht widerscheinen - sie werden von sich drehenden Lichtkegeln produziert. Nein, in dieser Welt gibt es keine Hinterwelt, die nicht erklärbar wäre - außer in uns selbst.
Manchmal erinnert dieser so mit den Perspektiven spielende Abend an Aki Kaurismäkis Stummfilm »Juha«, manchmal an eine Radiosendung von und mit der Autorin Friederike Mayröcker und ihrem so wunderbar melancholisch voranfließenden Text. Es ist ein einziger Anziehungs-Abstoßungs-Prozess, dem wir hier beiwohnen und das nicht nur kühl arrangiert als Gedankenexperiment (das auch), sondern jederzeit von unerhörter sinnlicher Präsenz.
Aber eigentlich ist dieses Theater der Katie Mitchell ohne Vorbild: das Gegenteil von epigonal. Wir schauen wie in die Werkstatt eines Alchimisten - und sind von dem, was hier und jetzt entsteht, immer wieder bis zur Verblüffung überrascht. Dabei sind es doch nur die immergleichen Dinge des Lebens.
So entsteht in gerade einmal fünfundsiebzig Minuten eine bezwingende Atmosphäre permanenter Übergänge, in der das Paradox jederzeit glaubhaft vor uns steht, dass uns hier nichts vorgemacht wird, dass diese Zugfahrt durch die Erinnerung immer nur ein Ziel hat: die schwierige Wahrheit über sich selbst zu erfahren.
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