Habemus Amor

»Entkommen, mein Engel« im Theater unterm Dach

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 3 Min.

Alexander Schröder beginnt seine sehenswerte Inszenierung von »Entkommen, mein Engel« nach Honoré de Balzacs Briefroman »Mémoires de deux jeunes mariées« mit dem Wandeln zweier Nonnen durch den Säulengang eines Klosters. Gemessenen Schritts und Psalmen summend bewegen sie sich um einen zentralen Säulenstumpf. Doch selbst wenn sich Assoziationen einstellen zur jüngsten Papstwahl - wann steht dieser Institution endlich einmal eine Frau vor? -, so waren diese bei Probenbeginn sicher nicht geplant. Getreu des Beginns des Balzac'schen Briefromans über zwei junge, schwärmerisch der Liebe zugetane Mädchen in Novizinnentracht hält sich die Inszenierung in klösterlichem Ambiente auf.

Ängstlich schauen die beiden sich zunächst um. Sich unbeobachtet glaubend beginnen sie zu scherzen und zu schäkern. Und entfalten schließlich ihr ideales Liebesprojekt. Bedingungslose Hingabe, große Lust und hohe Risikobereitschaft lauten die zentralen Ingredienzen - also all das, was TV-Serien als die zeitgenössische Version des einst zuerst als Fortsetzungsroman erschienen Stoffs auch heute noch suggerieren, von dem die weit verbreitete pragmatische Lebenseinstellung aber Lichtjahre entfernt ist.

Auch die Wege der beiden Protagonistinnen trennen sich bald. Dem Kloster entronnen schlägt Renée (Friederike Pöschel) den pragmatischen Weg ein und heiratet einen Landadligen, zu dem sie sich - von Jahr zu Jahr erfolgreicher - eine Schrumpfform der Liebe einsuggeriert. Louise (Antje Widdra) hingegen hält an dem alten Ideal fest. Und so entfaltet sich in Briefform und dank zweier prächtiger Schauspielerinnen ein so präzises wie vergnügliches Abwägen dieser beiden doch konträren Liebes- und Lebensformen.

Eine ganz auf Sinnlichkeit getrimmte Widdra wirft der eher kühl verhaltenen Pöschel Verrat an den Idealen vor. Die hingegen philosophiert ganz trefflich über die Herrschaftsverhältnisse zwischen Männern und Frauen und prophezeit der fernen Freundin ein bitteres Ende ob deren weit gespannten Erwartungshorizont. So groß die Liebessehnsüchte seien, so tief werde der Abgrund sein, in den sie nach dem durch Gewohnheit bedingten Erkalten dieser Liebe stürzen werde, lautet die Prognose. Angehaltenem Atems lauscht das Publikum, meist, vom Augenschein her zumindest, klassische Prenzlauer Berger Pärchen zwischen Ende 20 und Ende 40, deren Gesichter in erschreckter Selbsterkenntnis aufleuchten.

Theater funktioniert in diesem Fall als beste Lebensberatung. Gewieft wie der seinerzeitige Kolportageschreiber Balzac war, lässt er die ideale Liebe gewinnen und zugleich nicht gewinnen. Romantiker wie Pragmatiker beiderlei Geschlechter dürfen sich bestätigt fühlen.

Zu würdigen ist in erster Linie, wie frisch das Ensemble den 160 Jahre alten Stoff aufbereitet hat, ohne ihn modernistisch zu überlasten. Kein ganz großes Werk, aber doch ein richtig guter Wurf ist mit dieser literarischen Ausgrabung gelungen. Und Antje Widdra, zuletzt in einigen Polizei-Filmen auf ARD und ZDF zu sehen, zeigt überzeugend, welche Lust auf Theater sie weiterhin hat. Die gebürtige Bad Saarowerin und die Ostberlinerin Pöschel leisten sich sogar noch einen amüsanten Rückgriff aufs FDJ-Liedgut. Die kenntnisreichen Reaktionen im Publikum belegten, dass es mit der Verschwabisierung des einstigen Kultbezirks längst nicht so weit fortgeschritten sein kann, wie gelegentlich kolportiert.

»Entkommen, mein Engel« ist, unabhängig von dieser politisch-geografischen Note, ein unterhaltsamer Abend für alle, wo immer die Wiege auch stand und wo immer die ersten Liebesschwüre abgegeben wurden. Auf, dass sie der Wirklichkeit standhalten mögen.

Theater unterm Dach, 25., 26., 30., 31.5., jeweils 20 Uhr

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