Twitters erster Lovestorm

Hunderte Twitter-User versuchen, eine junge Frau vom Selbstmord abzuhalten

  • Fabian Köhler
  • Lesedauer: 4 Min.
Eine junge Frau kündigt auf Twitter an, sich das Leben zu nehmen. Ihre Einträge auf dem Kurznachrichtendienst erzählen nicht nur von einer enttäuschten Liebe. Sie geben Einblick in die Macht des Social Web, das manchmal Leben retten kann.

„Vielleicht ist heute endlich der letzte Tag. Mein letzter Tag.“ Die Worte, die klingen wie eine Selbstmordankündigung fanden sich am Mittwochabend auf dem Kurznachrichtendienst Twitter. „Der Wille um weiter zu kämpfen“ fehle einfach, schrieb eine 22-jährige dort gegen 19 Uhr. Wenige Minuten später verabschiedet sie sich: „Es tut mir leid.“

Die Nachrichten der Twitter-Userin @Seelenwind* haben am Mittwochabend einen Sturm auf dem Kurznachrichtendienst Twitter ausgelöst. Doch anders als gewöhnlich, überschüttete das anonyme Netz die ihr Unbekannte nicht mit Spott und Beleidigungen. Statt eines Shit- gab es einen Lovestorm.

Verfolgt man die Einträge von @Seelenweind zurück, stößt man schnell auf den mutmaßlichen Grund für die Selbstmord-Ankündigung. „Ich liebe diese Spielchen zwischen uns“, schreibt sie an einem Tag. Am nächsten Tag fleht sie: „Hilf mir, dich zu vergessen und sag mir einfach ins Gesicht, dass aus uns nie etwas wird.“ Einmal schwärmt sie vom „Verlangen, dich zu küssen“. Kurz darauf klagt sie über ein Herz, das drohe zu „zerquetschen“. Als „Träumerin“ und „Naivchen“ charakterisiert sie sich in ihrer Profilbeschreibung. Man mag ihr kaum widersprechen.

Ihr Profil strotzt voll kitschig-romantischer Schwärmereien wie man sie früher auf klein gefaltete Zettel heimlich in Federmappen versteckte und die heute Millionenfach und für jedermann sichtbar durchs Internet fliegen. Am Dienstag schließlich ein letzter Eintrag zum Stand ihrer Liebesbeziehung: „Warum kannst du mich nicht einfach lieben? So wie ich dich?“ Am Abend darauf folgen die Nachrichten, die klingen wie eine Selbstmordankündigung.

Doch was dann passiert, widerlegt das Stereotyp vom angeblich so anonymen wie mitleidlosen Social Web: Innerhalb von Minuten verbreiten andere Twitter-User ihre Nachricht weiter, schicken sie an ihre Freunde und die an ihre. Nachrichten, wie „Wer kennt sie, weiß, wo sie wohnt? Bitte sofort Polizei anrufen!“, werden immer wieder weitergeschickt. Eine Art lebensrettende Arbeitsteilung entsteht innerhalb von Minuten. Während einige Twitter-User Freunde aus der Kontaktliste von @Seelenwind anschreiben, reden andere beruhigend auf sie ein.

„Mach keine Dummheiten. Viele Menschen mögen dich... Du musst nur deine Augen öffnen und sie wahrnehmen“, schreibt ein Musiker. Unbekannte versuchen sie aufzubauen: „Kennen uns nicht. Weder im echten Leben noch auf Twitter. Heißt aber nicht, dass du mir als Mitmensch egal bist. Mach keinen Unsinn, okay?“ Mehrere Nutzer, unter ihnen ein Seelsorger, schicken @Seelenwind ihre Telefonnummern. Andere bieten an, vorbei zu kommen. Wieder andere recherchieren im Internet nach dem Aufenthaltsort des Menschen hinter dem Twitter-Benutzernamen.

Am Ende beteiligen sich hunderte Twitter-User an der Rettungsaktion. Unter ihnen auch Journalisten, eine Fernseh-Moderatorin und Politiker, die zufällig auf die Mitteilungen stießen. Mehr als 1.400 Nachrichten werden innerhalb der ersten zwei Stunden verschickt. Auf den Seiten von Hunderttausenden Twitter-Usern erscheinen die Appelle, bis die Nachricht aus dem Netz heraus ins echte Leben dringt: “Polizei weiß schon Bescheid. Bittet nicht mehr anzurufen“, meldet jemand. In München, Hamburg und anderen Städten gehen Anrufe bei Polizei und Notdiensten ein. Bis irgendjemand schließlich die richtige Polizeiwache erwischt.

Um 22:39 Uhr meldet sich @Seelenwind erneut: „Leute, es geht mir gut! Bitte hört auf, die Polizei anzurufen. Ich spreche mit meinen Eltern.“ Ein weiteres Mal verbreitet sich die Nachricht hundertfach. Leute wünschen ihr Glück und beglückwünschen sich gegenseitig zum gemeinsamen Erfolg. „Ihr überwältigt mich. (…) Ich wollte euch keine Sorgen machen. Verzeiht bitte!“ , ist schließlich eine der letzten Nachrichten an dem Abend.

Dass der Erfolg wohl länger nachwirkt als es die Kurzlebigkeit einer Twitter-Nachricht vermuten lässt, bestätigt @Seelenwind am nächsten Morgen selbst. Wieder überrascht sie die Twitter-Community mit einer Ankündigung. Diesmal ist es eine positive: Eine Auszeit von Twitter wolle sie nehmen und sich in professionelle Behandlung begeben. Nur ihre Profilbeschreibung sollte sie vorher noch aktualisieren. Neben „Träumerin“ und „Naivchen“ steht dort eine Einschätzung, die sich nach gestern Abend wohl erledigt haben dürfte: „Vergessen worden“.

* Name und weitere Hinweise auf ihre Identität wurden auf Wunsch der Betroffenen geändert.

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